Wandern mit deinem Gott
Wandern mit deinem Gott
[234] Wohl kein anderes Schriftwort steht für mich in so dichter Beziehung mit Alfons Deissler wie Mi 6,8. Er übersetzt den Vers wie folgt: „Man hat dir (bereits) verkündet, o Mensch, was gut ist und Jahwe an dir sucht: nichts anderes als Gerechtigkeit üben, den Brudersinn (̣hesed) lieben und in Dienmut wandern mit deinem Gott.“1 Unabhängig von der Frage nach der Authentizität des Textabschnittes Mi 6,1–82 gilt von unserem Vers doch, was Alfons Deissler in prägnanter Weise formuliert: „Hier ist die Grundanweisung Jahwes, wie sie von Mose an erging und von Amos, Hosea und Jesaja ausgelegt wurde, in eine lapidare Formel zusammengefaßt, die zugleich die Substanz des Dekalogs gewissermaßen spiegelbildlich (Gemeinschaftspflichten vor der Gottbeziehung!) wiedergibt. Damit wird der ideale bundespartnerische Mensch gekennzeichnet, und zwar so kurz und zugleich so treffend, wie das kaum mehr sonstwo in der Bibel der Fall ist. Der Spruch ist gleichzeitig transparent auf Jahwe selbst hin, der ‚Recht und Gerechtigkeit, Liebe, Erbarmen und Treue‘ (vgl. Hos 2,21) einbringt in seine bundeswillige Zuwendung zur Menschheit.“3
Diese Erläuterung macht nicht nur deutlich, weshalb Mi 6,8 für Alfons Deissler so wichtig ist, sondern sie wirft auch Licht darauf, wie er an Texte herangeht und in seiner Exegese Wege zur Begegnung mit dem Alten Testament, Wege des Denkens aus dem Alten Testament her erschließt.
Ich fühle mich im Hören auf Alfons Deissler nie durch die Fülle des dargebotenen Materials verwirrt, sondern vielmehr auf den noch so verschlungenen Pfaden der Materialbewältigung eingeführt in eine Land- [235] schaft, in der man sich bewegen und orientieren kann. Die Probleme, die mit einem Text verbunden sind, werden nicht verschwiegen oder hinwegsublimiert, aber der Text wird geortet, er wird zugänglich gemacht von Kontexten und erschließt sich selber als Zugang zu Kontexten. Der Blick aufs Ganze der Botschaft, die Beziehung zum Menschenbild und zum Gottesbild biblischen Glaubens, wie sie in den referierten Sätzen Deisslers aufscheinen, prägen nicht nur sein Verstehen dieser einen Stelle, sondern sein Verstehen und Erschließen des Alten Testamentes insgesamt.
Damit aber ist eine Brücke zu religionsphilosophischem Denken geschlagen.
Ich möchte im ausdrücklichen Dank an Alfons Deissler diese Brücke begehen in einem Nachdenken über den mir selbst durch Deissler so sprechend gewordenen Vers Mi 6,8.
Ich lasse mich dabei nicht ein auf eine Auslegung dieses Textes, sondern versuche, das in verantwortetem Nachdenken ins Wort zu bringen, was er mir für das Selbstverständnis, Gottesverständnis und Menschenverständnis der Religions-philosophie sagt.
Diese religionsphilosophische Reflexion soll in drei Anläufen geschehen. Im ersten soll gefragt werden: Was „passiert“, religionsphilosophisch bedacht, in diesem Vers? Jedem Gesagten entspricht ja ein Gedachtes, und das hier Gedachte hat – so wird sich zeigen – mit der ureigenen Sache der Religionsphilosophie Entscheidendes zu tun. Im zweiten Anlauf geht es hingegen um das Widerständige, Fremde, Andersartige dieses Textes gegenüber einem religionsphilosophischen Denken, das aber gerade so herausgefordert, „erweckt“, in einem tieferen Sinn zu sich selbst gebracht zu werden vermag. Der dritte Anlauf schließlich versucht, die Ernte einzufahren, die aus dem Bedenken des Micha-Verses dem religionsphilosophischen Verständnis des Menschen erwächst.
Der religionsphilosophische Hintergrund solcher drei Angänge sei knapp skizziert. Religionsphilosophie hat nicht Religion zu „machen“, sondern sie findet Religion, Glaube, Zeugnis vor. Es ist nicht ihre Aufgabe, das Andere und Eigene von Religion, Glaube, Offenbarung in ausdenkendes Denken zu verwandeln, das Religiöse der Religion, das Positive der Offenbarung in apriorische oder jedenfalls mitgebrachte Denkweisen hinein aufzulösen. Es geht gerade um das Gegenteil: um die innere Intelligibilität, um die eigentümliche Denkweise des hier zu Denkenden, um eine dem Phänomen angemessene Weise, es ins Denken hinein aufgehen zu lassen. Das rechtfertigt die Frage nach der immanenten religionsphilosophischen Bedeutung eines und gerade dieses Textes.
Dies ist freilich nur die eine Seite von Religionsphilosophie. Die [236] andere: Denken kann nicht anders als mit sich selbst anfangen, als sich mit sich selbst vermitteln, sich für sich selbst durchsichtig machen und so alles in seine Durchsichtigkeit einbeziehen. Nach dem Eigenen und Anderen von Religion, Glaube, Offenbarung fragend, ist Denken so nicht nur in dieses Andere und Eigene der genannten Felder hineingerufen, sondern steht sogleich gegenüber, muß der Befremdung sich stellen; der „Jakobskampf“ des Denkens mit Gott kann nicht durch vorgängige Friedensschlüsse ausgespart werden. Erst wenn das Fremde und Sperrige des Religiosum und Divinum erfahren werden, sind sie tatsächlich in ihrem Eigenen zu verstehen. Schließlich wird aber philosophisches Denken durch solches Sicheinlassen auf das sich ihm Gebende und sich ihm Entziehende reicher und ärmer. Reicher an Möglichkeiten, aufs Ganze, aufs Andere hin unterwegs zu sein; doch gerade so erfährt das Denken die Armut seiner Begrenzung, es wird behutsamer und vorsichtiger in der Weise, sich allem zuzumessen und alles in sich einzubeziehen. Dadurch aber geht dem Denken neu das Geheimnis – jenes Geheimnis, das der Mensch ist, und jenes, das Gott heißt – als Geheimnis auf.