Politik und Zeugnis

Warum braucht es heute Zeugen?

Paul VI. hat die Notwendigkeit der Zeugen in Beziehung gesetzt zum „Menschen von heute“, wörtlich übersetzt zum „Menschen dieses unseres Zeitalters“. Was ist der Hintergrund dieser Zuspitzung auf unsere Situation? Im Blick auf den christlichen Glauben liegt die Antwort auf der Hand. Unser Zugang zur Wirklichkeit ist, auch fürs allgemeine Bewußtsein, bestimmt durch die Methode neuzeitlicher Wissenschaft, in der legitim und notwendig Gott als solcher, Gott in seiner eigenen und anderen Qualität nicht vorkommt. Blaise Pascal hat darüber, als Vorkämpfer der Qualität des Glaubens wie als jener der Eigenständigkeit von Wissenschaft, Unüberholbares gesagt.1 Die Weise, wie in diesem Kontext neuzeitlicher Rationalität gemäß von Gott als Gott zu sprechen ist, zeigt sich auch und gerade bei Pascal als jene des Zeugnisses im ausgeführten Sinn. Die Eigenheit und Andersheit Gottes kann nicht mit Binnenbegriffen und Binnenoperationen neuzeitlicher Rationalität aufgearbeitet werden, sondern erfordert eine Reflexion des Ansatzes neuzeitlicher Rationalität selbst. Dies erfordert aber eine Freigabe des Denkens an seine unverstellte Ursprünglichkeit, zu der elementar das Vernehmenkönnen von Zeugnis gehört2.

Paul VI. spricht in „Evangelii nuntiandi“ diesen Sachverhalt nicht so sehr in einer theoretischen Exposition an als vielmehr in der konkreten und „einfachen“ Wahrnehmung, daß Sprechen über den Glauben in einer Weise, die diese Andersartigkeit seines Wirklichkeitszugangs nicht vermittelt – und das heißt eben: bezeugt –, seine Sache verfehlt, sie nicht mitteilt. Zeugnis als lebendiges Sichtbarmachen der „anderen Qualität“ weckt die im Menschen als solchen vorhandenen Organe, um die Wirklichkeit des nicht rational Erweislichen oder funktional Planbaren und Brauchbaren wahrzunehmen.

In diesem Kontext ist noch auf eine andere Fährte zu achten. Die „Zubereitung“ von Wirklichkeit durch die neuzeitliche Wissenschaft und Technik verändert den Frageansatz des Menschen. Er geht nicht mehr zuerst darauf aus, [319] zu erkunden, was ist und was etwas ist, sondern zu ermitteln, wie etwas geht. Dabei setzt sich freilich immer deutlicher der Überschuß des Lebens mit seiner Sinnfrage über die bloße Funktionalität hinaus durch. Doch das leitende Interesse heißt hier: Wie geht Leben? Dies braucht nicht als ein Verfall der Wahrheitsfrage gedeutet zu werden, wohl aber ist es eine Transformation der Wahrheitsfrage: Was nicht dazu befähigt, daß Leben geht, wird nicht akzeptiert als die Wahrheit dieses Lebens, auf der es aufruht. Gerade dies aber fordert den Zeugen an, der mit seinem Leben nicht nur bezeugt, wie Leben geht, sondern daß Zeugnis für das Größere und den Größeren erst wahrhaft und ganz Leben ist. Demgemäß ist sowohl die neuzeitliche Verlagerung des Zugangs zur Wahrheit wie die Verwandlung des Interesses an Wahrheit selbst Ruf nach dem Zeugnis.

Die soeben skizzierten Beobachtungen haben eine unmittelbare Relevanz dafür, wie in unserer geistesgeschichtlichen Situation von Glauben zu sprechen oder wie er lebensmäßig allererst zu erschließen ist. Sie bauen uns aber auch eine Brücke zur Frage: Warum braucht die Politik gerade heute Zeugnis und Zeugen?


  1. Vgl. etwa B. Pascal, Pensées, ed. Brunschvicg, Frgm. 793. ↩︎

  2. Vgl. zu Pascals Sicht des coeur z. B. Fragm. 282 und 283. ↩︎