Politik und Zeugnis

Warum braucht heute die Politik Zeugen?

In der Politik geht es um die Gestaltung menschlicher Geschichte. Sie ist nicht bloß für die Menschen zu gestalten, sondern nur mit ihnen. Und Partner der Politik sind nicht Menschen, wie wir sie entwerfen, sondern wie sie sind, mit ihrem Zugang zur Wirklichkeit. Die Verfaßtheit des Bewußtseins, die geistesgeschichtliche Situation sind von daher politisch bedeutsam.

Geschichte ist heute auch und zumal Geschichte neuzeitlicher Technik und Wissenschaft. Doch in solcher Geschichte geht es um den Menschen, geht es gerade um das am Menschen, was die wissenschaftliche Erkennbarkeit und technische Machbarkeit überragt, um jenes im Menschen, was ihn neuzeitlicher Wissenschaft und Technik sich bedienen läßt, den Umgang mit ihnen bestimmt. Wie kann in allem, was dem Menschen an Möglichkeiten und Nöten in unserer wissenschaftlich-technisch verfaßten Welt begegnet, Leben gehen, Leben des einzelnen, Leben aller, Leben der Menschheit? Ohne Zeugenschaft für das, was menschliches Dasein im Ganzen orientiert und auch in seinem Bezug zur Wirklichkeit bestimmt, kann Politik nur sich selbst verfehlen, wird sie zum puren und nicht zu verantwortenden Zufall. Die Möglichkeiten der modernen Wissenschaft und Technik, aber auch ihre Grenzen und die Grenzen, an die sie menschliches und menschheitliches Leben zu führen vermag, fordern den Politiker, der Zeuge der größeren Wirklichkeit des Menschen ist und so gerade verantwortete Anwendung und Entwicklung jener Rationalität der Neuzeit ermöglicht, auf die wir nicht verzichten können und wollen.

Der Politiker als Zeuge: Zwei fundamentale Erfahrungen unseres Jahrhunderts machen dieses Postulat unausweichlich. Die erste hat unmittelbar mit dem soeben Entfalteten zu tun. Noch nie gab es eine so breit angesetzte [320] rationale Durchdringung der Wirklichkeit wie in unserem Jahrhundert. Mit der rationalen Durchdringbarkeit wuchs auch die Partizipation, die Gestaltungsmöglichkeit aller an unserem Gemeinwesen, an der Politik im Ganzen. Hierbei herrscht aber unausweichlich ein Mißverhältnis. Die immer weiter zunehmende rationale Durchdringbarkeit und Planbarkeit von Wirklichkeit läßt den Stoff dessen ins Ungemesse wachsen, was jemand wissen und durchschauen müßte, wollte er seine Möglichkeit der Mitwirkung und seine Verpflichtung der Mitgestaltung voll ausfüllen. Dies ist aber eine konstitutionelle Überforderung des je einzelnen, die ihn gar nicht anders leben und Politik mitgestalten läßt als auf dem Weg der Option, des Vertrauens. Je mehr Erkennbarkeit es grundsätzlich gibt, desto mehr Vertrauen braucht der Mensch, weil er das Maß der ihm zufallenden Erkennbarkeit unmöglich in Erkennen übersetzen kann.

Mit der Notwendigkeit, daß Vertrauen wachse, wächst auch die Möglichkeit des Verdachts, des Mißtrauens. So braucht der Mensch etwas wie eine Kriteriologie des Vertrauens und der Optionen, die ihn in seinem gesellschaftlichen Handeln leiten. Wofür stehst du als Zeuge? Wie werden dein Leben, Verhalten und Handeln zum Zeugnis, das uns den Zielen und Inhalten deines politischen Handelns trauen läßt und das uns zugleich dem trauen läßt, daß du lauter und glaubwürdig die Ziele, die du angibst, auch verfolgst und umzusetzen imstande bist?

Die zweite Erfahrung: Unser Jahrhundert war reich an Umschwüngen und Zusammenbrüchen, Neuanfängen und Gestaltungsnotwendigkeiten wie wenig andere der uns zugänglichen Geschichte. In den entscheidenden Augenblicken, gerade in jenen, in welchen die Glaubwürdigkeit eines herrschenden Systems, einer bestimmenden Ideologie zerstört wurde, ging es je nur weiter mit Hilfe der „Zeugen“. Sicher reicht Zeugenschaft allein nicht aus, um Politik zu machen. Aber wo die Politik auf die Zeugen verzichtet, verrät sie sich, bleibt sie hinter ihrem Maß zurück. Wenn die Zeugen keinen Platz mehr finden in der Politik oder die Politik sich als zweites Kapitel nach einem abgeschlossenen ersten der Zeugenschaft fortzuschreiben sucht, schlägt jenes Mißtrauen voll zu Buche, das, wie oben angedeutet, in die Konstitution unseres Zeitalters und der Verantwortung für unser Zeitalter mit hineingehört.