Geistlich heißt weltlich

Was braucht der einzelne?

Es klingt ein wenig plakativ, aber es faßt doch eine Fülle von Phänomenen, die wir oberflächlich bereits anvisiert haben: Wir erfahren heute eine dreifache Krise des Menschen, Krise seiner Identität, Krise der Kommunikation, Krise seiner Kraft, sich zu geben, sich in Dienst zu stellen über sich hinaus für ein Ganzes.

a) Krise der Identität: Unzähligen Angeboten ist heute jeder, der den Fernsehapparat anknipst oder über die Straße läuft, ausgesetzt, und nicht weniger Ansprüche werden heute beinahe jeden Augenblick an beinahe jeden gestellt. Man denke ans Reagierenmüssen nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im Straßenverkehr, an die tausend unscheinbaren Alltagsentscheidungen, die ein jeder trifft, wenn er dies kauft oder jenes nicht kauft. In der Heiß-Kalt-Dusche der kontrastierenden Eindrücke und andererseits wieder im Grau und Grau einer ihr Alltags- und Festtagsprogramm abklappernden Allerweltsmaschine kommt der Mensch nicht mehr zu jener Distanz von seinem Erleben, in der er sich selber finden könnte. Er weiß nicht mehr recht, wer er ist. Wer er sein soll, wird ihm durch seine Funktionen einerseits, durch die Erwartungen der Werbeangebote andererseits vorgeschrieben, und so wird das Ich, das Selbst ihm zum bloßen Postulat, zum Interesse, das er uniformiert mit allen anderen Ichs auch zu vertreten hat; aber der Inhalt, die Konsistenz, die Substanz dieses Ich gehen ihm weithin verloren. So rasch man mit den gängigen Parolen von der Selbstfindung und der Selbstverwirklichung in Engführungen gerät, der Hintergrund dieser Forderungen liegt auf der Hand. Wer füllt die Hohlform, die ich als Träger von Ansprüchen und Pflichten in der Gesellschaft bin, als Teilhaber des Prozesses der Produktion und des Konsums? Wer fügt die vielen Rollen, die ich selber zu spielen habe, die vielerlei Gesichter meiner selbst, die mich aus den vielerlei Spiegeln meines Daseins anschauen, zu jener Einheit zusammen, in welcher ich mich als mich erfahren und bewähren könnte?

Genau besehen, hat die Not und die Identität des eigenen Ich eine zweifache Richtung: Zunächst geht es darum, den Schwerpunkt meiner eigenen Existenz wieder in mich hineinzuholen. Ich bin von außen gesteuert, es wird mir von außen vorgeschrieben und vorgemacht, wer ich bin. Mein Leben muß wieder von mir ausgehen, muß wieder die Tat meiner Freiheit sein dürfen. Gerade weil äußerlich mir niemand verbietet, der oder jener zu sein, fällt diese Freiheit besonders schwer; denn nicht durch Verbote, nicht durch Gesetze bin ich mir entfremdet, sondern dadurch, daß mir andere Mächte, Mächte außerhalb von mir, gar keine andere Wahl lassen, als durch Wahlen, die ich selber treffe, von ihnen abhängig zu werden. Kein Wunder, daß in dieser Situation eine tiefe Abneigung gegen alle Norm, gegen alle Verbindlichkeit, gegen alle Werte erwacht, die man auf der anderen Seite [311] doch insgeheim sucht. In der Tat: Es geht darum, daß ich mir zurückgegeben werde, daß ich wieder jenes Zentrum sein darf, von dem aus mein Leben gestaltet wird.

Aber – und dies wäre die zweite Richtung der Not um die eigene Identität – mit der formalen Freiheit allein ist es gerade nicht getan. Die quantitative Vermehrung der Freiheitsräume macht den Menschen eher nur noch ratloser, was er mit seiner Freizeit anfangen, wie er sich mit sich selber ausfüllen solle. Die substanzgebende Kraft, die das Ich ausfüllen könnte, ist ausgesogen und ausgelaugt; denn sie ist investiert ins Erfüllen der von außen steuernden Ansprüche und in den Konsum der von außen sich aufdrängenden Angebote. Somit bin ich notwendigerweise über mich selber hinausgewiesen, ich muß in eine größere Tiefe, ich muß in einen mächtigeren Ursprung als mich selbst zurückfinden, damit ich aus ihm wieder zu mir finden kann.

Ich darf nicht nur durch gesellschaftliche Erlaubnis in mich selber eingesetzt werden, ich muß in mich selber eingesetzt werden von jenem Ursprung her, der es mir allererst möglich macht, daß ich ich bin und nicht nur eine hohle, leere Hülse. Genau das ist der Hintergrund, der es verständlich macht, warum mit der Suche nach möglichst viel Freiheit, mit der Ungeduld, die alles niederreißen will, was die eigene Beliebigkeit hemmt, ein ganz anderes Streben Hand in Hand geht, das Streben nach Sinn, nach Halt, nach Orientierung, nach Verbindlichkeit und Ursprung.

Um es in einem Bild zu sagen, das mehr als ein Bild ist: Ich brauche ein Wort, das nicht nur Parole ist, von außen mir vorgesagt, so daß ich sie mit- und nachsprechen müßte, sondern ein Wort, das wahrhaft mein Wort ist, Wort das aus der unverbrauchten und unmanipulierten Tiefe meiner selbst aufsteigt – aber weil ich in der Tiefe meines Selbst nur mehr meine eigene Sprachlosigkeit vorfinde, weil ich nicht mehr jenes Wort vermag, das wahrhaft mich vermag, muß ich durch mein eigenes Nichts, durch meine eigene Leere hindurchhören, ob nicht ein anderes Wort sich mir sagt, ein anderes Wort, das dennoch kein Fremdwort ist, sondern mein eigenstes Eigenwort, obwohl mächtiger und ursprünglicher als ich selbst: Wort eben, in dem ich ganz und gar enthalten, in dem ich zu mir erschaffen und zu mir erlöst bin.

b) Krise der Kommunikation: Es ist paradox – keinen Augenblick lang sind wir nur bei uns, andauernd sind wir umgarnt von den Fäden tausendfältiger Verbindung, die in die ganze Welt hineinreichen – und doch gehen viele Menschen heute an ihrer Einsamkeit zugrunde. Die Welt ist voller Worte, und doch kann der eine dem anderen nicht sagen, was er wirklich auf dem Herzen hat, oder der andere hört es zumindest nicht. Doch es liegt nicht nur am Hören, sondern auch am Sagen selbst. Je perfekter wir parlieren können, je weniger Barrieren der Scham und der Scheu es gibt, über alles zu reden, um so weniger bringen wir uns selbst noch so in unsere Worte hinein, daß sie uns selbst über uns hinausbringen hin zu unserem Nächsten.

Paradox ist dies, gewiß – und doch eine logische Konsequenz aus dem soeben besprochenen Befund. Wenn ich nicht zu mir selber finde, was Wunder, daß ich nicht hinausfinde über mich zu meinem anderen? Wenn ich das Wort nicht kenne, das mich Ich sagen und Ich sein läßt, was Wunder, daß dieses Ich dem Du nicht verlauten kann? Wenn ich aus mir herausgezogen bin, um nur das System des Funktionierens zu beheizen, was Wunder, daß ich mich nicht mehr hineingeben kann in den Kontakt mit dem anderen? In einer Welt, die aufgeht in bloßen Funktionen und die gegen diese Entfremdung nur reagiert mit Postulaten, gibt es für das Ich, gibt es für das Selbst nur Einbahnstraßen, Straßen, auf denen es nichts zu empfangen, auf denen es nicht selber getroffen und nicht selber angegangen zu werden vermag. Auf diesen Einbahnstraßen komme ich zwar in die ganze Welt hinaus, aber ich komme nicht bei einem anderen Ich an, das eben selbst nur eine Einbahnstraße von sich ausgehen läßt, das eben selbst nicht besuchbar, nicht auffindbar, nicht betreffend ist.

In der Not um die Kommunikation wird für den einzelnen, der über sich selbst nicht hinausfindet, die Gesellschaft mit ihren äußerlichen Kommunikationszwängen, wird der unausweichliche und ständige Einfluß der Gesellschaft auf den einzelnen zum Druck, gegen den er sich wehrt, Gesellschaft droht zum Feind des einzelnen zu werden, der einzelne droht die Flucht vor [312] der Gesellschaft anzutreten. Er verkapselt sich entweder in sich selbst oder er flieht in die kleine Gruppe, von welcher er sich Bergung verspricht. Der Preis solcher Geborgenheit ist aber nicht selten die Abriegelung gegen die Gesellschaft, und aus dieser Abriegelung kann ebenso die Flucht, die Verweigerung wie andererseits der Protest, der Versuch des Umsturzes werden.

Ein anderer Anlauf, mit der Kommunikationsnot fertigzuwerden, ist der Versuch, Kommunikation zu veranstalten, ihre Prozesse zu erlernen, das durch Einübung, durch Beherrschung von Regeln und Praktiken zu machen, was spontan nicht gelingt. Es wäre eine Verkennung, alle Bemühung um Gruppendynamik auf diesen Nenner zu bringen. Alles hat seine erlernbare, machbare, funktionale Seite, und wenn der funktionale Überdruck auf den Menschen so stark ist, daß seine kreativen und kommunikativen Kräfte erlahmen, dann ist es nur recht und billig, sie auf funktionale Weise wiederum zu wecken und zu fördern. Wo aber die Methode für die Sache selber genommen wird, da bringt der Mensch sich um eines: eben um die Sache, in diesem Fall um die Kommunikation. Die Verlagerung der Kommunikationsnot auf eine tiefere, verborgenere Ebene wäre eine Scheinlösung. Bei aller Beherrschbarkeit der Regeln von Kommunikation bleibt ein Rest von Einsamkeit, dem auf diese Weise nicht beizukommen ist, und in diesem Rest siedelt sich eine der dichtesten und am schwersten zugänglichen Nöte des Menschen heute an.

Auch hier geht es wieder um ein Wort: um ein Wort, das mich so enthält, daß es auch dich enthält, um ein Wort, das meinen Ursprung und deinen Ursprung ausdrückt. Dieses Wort darf uns nicht bloß äußerlich vorgemacht und vorgeschrieben sein, und dieses Wort ist doch zu groß und zu schwer, als daß wir es aus unserer eigenen Situation heraus vermöchten. Jenes Wort eben tut not, in dem ich erschaffen bin, in dem aber auch du erschaffen bist, jenes Wort, das mich ganz mich sein läßt, mich annimmt und verwandelt, aber in einem zugleich dich trifft, dich annimmt, dich verwandelt. Jenes Wort also, dem dein Verborgenstes und mein Verborgenstes zugleich offenliegen, ohne daß dadurch jene unabnehmbare Eigenheit von mir und dir ausradiert oder manipuliert würde. Nur das Wort, das dich und mich sagt, ist stark genug, daß ich mich darin dir sagen kann, so daß du mich verstehen kannst, und daß du dich mir sagen kannst, so daß ich dich darin verstehen kann.

c) Noch von einer dritten Krise ist zu sprechen, von der Krise der Freiheit des einzelnen für den Dienst am Ganzen. Diese Krise liegt nicht ganz so offen zutage. Es gibt viel Einsatz für Nächste, es gibt viel Interesse für die Dritte Welt, es gibt das ganz elementare Bedürfnis zu helfen. Es gibt vor allem das Bewußtsein, daß alle von allen abhängen und daß das Ganze nur dann weitergeht, wenn alle fürs Ganze sorgen. Es gibt aber ebenso unzweifelhaft Gegenkräfte: die Angst, zu kurz zu kommen, die Hektik, ja Panik, um keinen Preis sich selbst zu verlieren, das einfache Abschalten gegen jeden über den eigenen Rahmen hinausreichenden Anspruch, nachdem man den ganzen Tag und die ganze Woche doch von der Gesellschaft in Anspruch genommen war im Dienst, in der Funktion. Wer dauernd Dienst hat mag nicht mehr dienen. Die Solidarität in der Forderung, bedient zu werden, die Solidarität im Interesse am möglichst perfekten Service liegen elementar näher als die Bereitschaft zum selbstvergessenen Dienst. Wo das Selbst nicht zu sich kommt, da denkt es zuerst an sich allein; wo das Ich nicht über sich selbst hinauskommt zum anderen, da spricht dieser andere, da spricht das Ganze den Menschen nicht in seinen persönlichen Kräften und in seiner persönlichen Bereitschaft an.

Wiederum hilft uns hier das Stichwort vom Wort weiter. Menschen und Dinge, Verhältnisse und Ereignisse dürften uns nicht mehr nur neutrale Zahlen oder aufreizende Schlagzeilen sein, sie müßten selbst Wort sein, sie müßten uns etwas zu sagen haben und wir müßten für ihr Wort ein Ohr haben. Nur so könnten wir Antwort sein auf Menschen, auf Ereignisse, könnten wir Wort werden, das sich ins eine und ganze Gespräch der Menschheit und ihrer Geschichte einfügt. Nur in dem Wort, in dem alles geschaffen und alles erlöst ist, sind wir zu jener Freiheit frei, die zu dienen, die das Ganze aufzubauen und zu verwandeln imstande ist. Wer nicht an das Wort glaubt, daß jener, der sein Leben verliert, es findet, daß jener, der sich hingibt, sich [313] gewinnt, der ist nicht frei fürs Ganze, nicht frei für den anderen.