Geistlich heißt weltlich

Was braucht die Gesellschaft?

Die Situation des einzelnen kann heute nicht ohne den Blick auf die Gesellschaft zur Sprache kommen. Der einzelne ist mehr denn je von der Gesellschaft abhängig, auf sie angewiesen. Gerade das aber macht ihn sich zum Problem und macht sie ihm zum Problem. Er kann an zwei Eckdaten nicht vorbei: daran, daß er in der Gesellschaft mitleben und sie mitgestalten muß, will er selber sein – daran, daß er einen unabweislichen Anspruch auf sich selber, ein unabweisliches Interesse an sich selber angesichts des totalen Anspruchs und Interesses der Gesellschaft hat.

Diese Eckdaten miteinander in Einklang zu bringen, ist die Preisaufgabe. Zwei externe Theorien bieten sich an, und beide haben ihre gesellschaftliche Wirksamkeit. Die eine lautet: Lebe ganz der Gesellschaft, so macht sie dich zu dir selbst! Die andere: Sei du ganz du, dann und nur dann baust du die richtige Gesellschaft auf! Spannungen lassen sich indessen nicht lösen, indem man einen ihrer beiden Pole herausstreicht. Gesellschaft braucht daher eine Alternative zu zwei Modellen, die sich in den Gedanken und Versuchen unterschiedlicher Gruppen ihr aufdrängen.

Das eine Modell sieht in der Gesellschaft das bloße Nebeneinander isolierter einzelner, das durch neutrale zweckdienliche Regeln koordiniert ist. Die Solidarität in der Gesellschaft ist einmal die des Funktionierens, die des Beitrags zum gemeinsamen Fortschritt, zum anderen das Interesse an der ungestörten Beliebigkeit des einzelnen, die nur in dem Ausmaß als gewährleistet erscheint, als keinerlei verbindliche Wertsetzungen gesellschaftliche Geltung beanspruchen. Eine so konstruierte Gesellschaft scheint ganz und gar liberal und funktional, ganz und gar ideologiefrei zu sein. Und doch liegt der Umschlag zur Ideologie, im Extremfall sogar zur totalitären Ideologie nahe genug: Wo nicht mehr gefragt werden darf, ob das Funktionieren und ob der Fortschritt letztgültige, von nichts relativierbare Maßstäbe seien, wo die Freiheit des einzelnen durch keine Bindung mehr angetastet werden darf, die übers Funktionale hinausweist, da setzt sich menschliche Freiheit ein viel engeres und fremderes Maß als dort, wo sie anerkennt, daß sie nur aus einer Bindung ans Unverfügbare auch gesellschaftlich existieren kann.

Das andere Modell ist jene Gesellschaft, die sich Zug um Zug als das einzige Subjekt menschlichen Handelns etablieren möchte. Nicht mehr der einzelne, sondern die Gesellschaft selber sagt an seiner Stelle ihr Ich, er leiht ihr das eigene Ich und bekommt sein Ich nur mehr von ihr geliehen. Dieses Modell ist unheimlicher, gefährlicher, aber auch großartiger und faszinierender als das erstgenannte. Es macht ernst mit der Wahrheit, daß der einzelne nicht für sich allein existieren kann, daß nur jener sich hat, der sich gibt. Aber wo der Adressat des Sich-gebens nur wieder ein kollektives Sich-haben ist, da löscht sich diese Wahrheit selber aus, da bringt sie sich um sich selber, da bringt sie den einzelnen um sich selber, um seine Freiheit.

Wir kommen nicht daran vorbei, eine höchst gespannte, ja gespaltene Ausgangssituation anzuerkennen: auf der einen Seite eine totale funktionale Abhängigkeit aller von allen, auf der anderen Seite ein weitgehender Verlust gemeinsamen Sinnentwurfs, gemeinsamer Werte und Maßstäbe. Wir können diesen Verlust nicht einfachhin festschreiben, wir können ihn aber auch nicht totalitär überspielen. Wo aber liegt der Ausweg? Nicht in etwas, sondern in uns, in lebendigen Menschen. An uns liegt es, die funktionale Abhängigkeit aller von allen positiv anzunehmen, aber sie zu verwandeln und zu beseelen in Dienst. An uns liegt es, zugleich von unten her Kommunikation zu stiften, Kommunikation, die dort möglich ist, wo Menschen ihre Identität finden, weil sie diese Identität begründen in einem Sinn und in einem Wort, das nicht sie vermögen, sondern das sie vermag.