Was heißt „katholisch“ in der katholisch-sozialen Bildung?
Was hat sich geändert?
Die eingangs bereits erwähnten Verschiebungen innerhalb der katholischen Ekklesiologie und innerhalb der im katholischen Bereich vertretenen Theorien des Sozialen sollen im folgenden kurz erörtert werden. Hierbei geht es nicht um eine Darstellung der verschiedenartigen Positionen, sondern um sie bestimmende, in ihnen aufgegriffene – oder auch angegriffene – Entwicklungen des Denkens im allgemeinen.
Zunächst zum Ekklesiologischen: Zwar bedeutet die Ekklesiologie des Zweiten Vaticanums keinen Ausbruch aus der bisherigen, keinen Verlust der Identität des Selbstverständnisses der Kirche; doch sind hier unverkennbar neue Akzente gesetzt. Auf einen muß hier hingewiesen werden. Durch das Konzil und in der Folge des Konzils tritt anstelle eines juridisch in sich geschlossenen Kirchenbegriffs, der als Teilaspekt von Kirche durchaus erhalten bleibt, ein mehr „konzentrisches“ Verständnis von Kirche. Die Frage, wo die Grenze der Kirche verlaufe, verliert an Bedeutung gegenüber der anderen Frage, wo Elemente der Kirche auch jenseits ihrer institutionellen Grenze zu finden seien. So zeichenhaft deutlich umrissen die Gestalt der Kirche auch bleibt, der Blick wendet sich an dieser Grenze dynamisch von ihr hinweg, und zwar nach innen und nach außen zugleich. Nach innen: Kirche erschöpft sich nicht darin, daß man zu ihr gehört; es gilt vielmehr, sich immer dichter um den zu versammeln, der ihre Mitte ist, um Jesus Christus. Es wäre allerdings ein Mißverständnis, der spiritualistischen Verengung der Kirche zu einem Häuflein der Entschiedenen und Radikalen das Wort zu reden und jene hinauszumanipulieren, deren Leben das nicht einlöst, was der Christenname verlangt und verspricht. Dennoch ist, heute deutlicher denn früher, der Sinn der Institution gerade der: Bedingung, Ausgangsposition, Anzeichen für den Vollzug, für die geschehende Gemeinschaft, für die Intensität der lebendigen gegenseitigen Verbundenheit in der Verbundenheit mit Jesus Christus zu sein. Diese Konzentration auf ihn als die Mitte hat aber auch die gegenläufige Folge: den Blick über die Grenzen hinaus, den Blick überall dorthin, wo mehr oder minder entschieden, mehr oder minder eindeutig das Kraftfeld der Orientierung auf ihn hin sichtbar wird. Es gibt kirchenbil-[12]dende, der Kirche zugeordnete Elemente auch außerhalb des unaufhebbaren institutionellen Rahmens der katholischen Kirche. Alles, was sich auf Jesus Christus bezieht, betrifft auch seine Kirche. Damit sollen nicht alle, die zu Jesus Christus in irgendeiner ausdrücklichen oder mittelbaren Beziehung stehen, als anonyme „Katholiken“ vereinnahmt werden; die „katholische“ Einheit der Kirche soll damit aber auch nicht in ein unbestimmtes und gestaltloses Nebeneinander gleich gültiger und somit gleichgültiger isolierter Sondereinheiten aufgelöst werden. Von dieser dynamischen Note im Verständnis der Kirche her ließe das Wort „katholisch“ auch in diesem thematischen Zusammenhang eine Ausweitung, eine dynamische Neuinterpretation zu. Doch nicht nur dieser neue, zusätzliche Ton im Klang des Wortes „katholisch“ ist hier von Belang. Eine weitere Veränderung läßt sich in dem Bereich feststellen, der für katholische Soziallehre besonders typisch war. Eines ihrer Kennzeichen war doch die naturrechtliche Basierung ihrer Aussagen. Die Offenbarung steht, in katholischer Sicht, nicht beziehungslos neben jenen Erkenntnissen, die mit Hilfe der bloßen Vernunft zu gewinnen sind. Das gilt nicht nur in den Fragen des Glaubens, wo die praeambula fidei, wo die philosophischen Implikationen der offenbarten Wahrheit eine deutliche Rolle spielen; es gilt auch von der Moral, die durch eine naturale Ethik gestützt ist, ja sie zu ihren wesentlichen Voraussetzungen zählt und in sich aufnimmt.
Es wäre falsch, wollte man sagen, hier habe sich etwas Grundsätzliches geändert. In mancher Beziehung hat sich dieser spezifisch „katholische“ Zug sogar verstärkt und ausgeweitet. Aber gerade darin ist auch eine eigentümliche Wandlung zu verzeichnen. Was heißt das konkret? Heute wird nicht weniger, sondern besser erkannt, daß das Wort der Offenbarung kein bloßer „Zusatz“ zu einer natürlichen Religiosität und Sittlichkeit bedeutet, sondern daß Offenbarung je im geschichtlichen Kontext steht und geschieht. Sie trifft hinein in menschliches Erkennen und Verhalten, die dadurch nicht bloß negiert, nicht einmal bloß durch Besseres und Höheres überholt werden. Sie gewinnen aber einen neuen Stellenwert: Sie stehen im Zusammenhang der sich offenbarenden Liebe Gottes, ihrer Verheißung und ihrer Forderung. „Mitmenschlichkeit“, Achtung vor der Personwürde eines jeden z. B. sind in der Tat etwas allgemein Menschliches; wenigstens grundsätzlich lassen sie sich herleiten aus einem philosophisch ausweisbaren Begriff des Menschen. Doch wenn offenbar wird, daß Gott selbst sich in Jesus Christus mit dem Menschen identifiziert, ihn ernst nimmt und annimmt bis zum letzten, erhält die Begegnung mit jedem Nächsten eine neue Tiefe, einen neuen Rang. Sie wird nicht „verfremdet“, ihr humaner, naturaler Sinn wird nicht verdrängt, aber er wird in sich selbst neu – etwa wie die Begegnung mit einem Kunstwerk für den neue Dimensionen gewinnt, der es als persönliches Geschenk des Künstlers empfängt.
Natürliche Erkenntnis und Offenbarungserkenntnis erscheinen in solcher [13] Sicht als tiefer miteinander verflochten, als durchgängiger aufeinander bezogen. Dadurch aber kann das Wort der Offenbarung als ein „Ganzes“ erscheinen, das in sich selbst die Quellen der natürlichen Erkenntnis mit umschlossen hält. Die Frage lautet, verkürzt gesagt, heute weniger: Was kann man nur durch die Offenbarung, was auch schon durch die bloße Vernunft erkennen? Sie lautet eher: Wie kommen das Ganze und das Einzelne des welthaften und menschlichen Daseins im Licht und Kontext der Offenbarung zum Vorschein, wie legt sich die „Natur“ im Glauben aus?
Wie schon angedeutet, ist hier mehr ein neuer Akzent vermerkt denn eine sachliche Änderung. Für die Frage katholisch-sozialer Bildung ergibt sich aus dem verkürzt Gesagten die Möglichkeit eines neuen Dialogs auch mit außerkatholischen (besonders reformatorischen) Positionen christlichen Verständnisses der Gesellschaft. Denn auch dort, wo die Offenbarung als die einzige Quelle christlicher Aussage betrachtet wird, kommt die angedeutete Sicht der Einheit und Zusammengehörigkeit zwischen menschlicher und welthafter Gegebenheit und göttlichem Sich-Geben mehr in den Blick; die „einbegriffene“ Natur erregt nicht mehr jenen Anstoß wie die abstrakt gesonderte. Hiermit ist freilich bereits ein weiteres Phänomen berührt, an welchem – vielleicht sogar am unmittelbarsten – Wandlungen in der überkommenen katholischen Soziallehre sich abzeichnen. Welthafte und menschliche Gegebenheit, geschichtlicher Kontext des Erkennens und Verhaltens – ist das die Natur im „klassischen“ Sinn? Eine geschichtslose Erkenntnis der Natur an sich macht immer mehr einer konkreten, mit geschichtlichen, wandelbaren Elementen durchsetzten Betrachtungsweise Platz. Es wäre auch hier eine Verkennung, wollte man eine Möglichkeit der Erkenntnis der Natur, des über Zeit und Umstände erhabenen Wesens, einfach verneinen. Wohl ist diese Natur, wie sie „an sich“ ist, nie geschichtslos gegeben. Die Weise, wie sie sich zeigt und wie sie in der Aussage erfaßt wird, ist je abhängig von den konkreten geschichtlichen Bedingungen dessen, der auf sie blickt.
Es gibt nicht als Kern ein in sich gleichbleibendes, zeitlos auf immer gleiche Weise erkennbares Wesen des Menschen – und darum herum legte sich der Mantel geschichtlicher Modifikationen dieses Wesens und seiner Erkenntnis, so daß es nur einer säuberlichen Sortierung der Aussagen über den Menschen bedürfte: Die einen wären geschichtlich bedingt, die anderen nicht. Doch ebensowenig löst sich das Wesen des Menschen in eine kommunikationslose Folge von geschichtlich-punktuellen Ereignissen und Ansichten des Menschseins auf. Die bleibende Natur (das Wesen) des Menschen schließt es selbst ein, daß es geschichtlichen Wandels fähig und ihm unterworfen ist. Die „Geschichte“ des Menschseins und seiner Erkenntnis ist zugleich aber die Geschichte desselben, des Menschen. Was der Mensch ist, das bleibt für alle Zeit „dasselbe“, dasselbe aber gerade in der Geschichte sich wandelnden Selbstvollzugs und Selbstverständnisses des Menschen.
[14] Für christliche Ethik und zumal für christliche Sozialethik hat dies seine Konsequenzen: Es ist nicht beliebig und unbesehen möglich, aus fraglos und fix erscheinenden Prämissen natürlicher Erkenntnis allein ein fertiges System ebenso fraglos und fix erscheinender Konklusionen fürs Handeln abzuleiten. Dies heißt keineswegs, es gebe keine Brücke von dem, was, aller Willkür und allem Wandel vorenthalten, wesenhaft so ist, wie es ist, zu dem, was sein soll. Etwas anderes ist aber die Vorsicht, die darauf achtet, unter welchen zeitgeschichtlichen Bedingungen, unter welchen konkreten Verhältnissen das Wesen, die Natur sich hier und jetzt zu erkennen und zu gestalten gibt, um daraus die situationsbezogenen, aber nicht beliebig anpaßbaren Forderungen zu erheben.
Genau betrachtet sind es sogar zwei Schritte, welche die Entwicklung, das „Anderswerden“ der heutigen Position bezeichnen. Einmal wird unübersehbar, daß die natürliche Ordnung sich nur im Licht der jeweiligen geschichtlichen Grundbedingungen des Erkennens erschließt; auch die „absoluten“, „bleibenden“ Aussagen haben ihre eigene, immanente Geschichtlichkeit, die sie indessen keineswegs entwertet oder zum Beliebigen hin absinken läßt. Zum anderen muß darauf geachtet werden, daß sich das ebenso geschichtliche wie bleibende Wesen des Menschen als Individuum und als Gemeinschaft konkret nur realisiert in einer Vielfalt unableitbarer Umstände; sie können nur im einzelnen, unvoreingenommenen Hinblick erkannt und abgewogen werden, sie sind also keine unmittelbare Konsequenz wesentlicher, mit der Natur der Sache selbst verbundener Gegebenheiten.
Die „anders gewordene“, hier mit einigen kurzen und allgemeinen Bemerkungen charakterisierte Situation läßt sich also durch die Stichworte bezeichnen: konzentrischer Kirchenbegriff, Ineinander von natürlicher und Offenbarungserkenntnis, Grenzen der Ableitbarkeit einzelner Aussagen aus der Natur, Geschichtlichkeit der Natur, Dynamisierung ihres Ordo, daher Vorrang des Induktiven vor dem Deduktiven. Diese Situation macht es schwieriger, zu gemeinsamen, fraglos als „katholisch“ unterscheidbaren Ergebnissen und Positionen zu kommen. Die Frage nach dem Sinn des Wortes „katholisch“ im Zusammenhang katholisch-sozialer Bildung verschärft sich also.