Gerechtigkeit besiegt Gewalt
Was heißt heute Gerechtigkeit?
Wer in die Gesellschaft von heute hineinblickt, in ihre Entwicklungen, die im Weltmaßstab verlaufen und deren Gänge und Ziele noch kaum abzusehen sind, der wird ein wenig ratlos sein, was „gerechte Ordnung“ hier heißen solle. Was ist Gerechtigkeit? Diese Frage legt sich dem Menschen heute so nahe wie einst dem Pilatus die andere Frage; Was ist Wahrheit? Sowenig dieser mit seiner Frage sich aus der Verantwortung herausreden konnte, sowenig entschuldigt uns heute unsere Ratlosigkeit vor dem Problem der Gerechtigkeit. Wir müssen uns stellen.
Unser Begriff von Gerechtigkeit, wie wir ihn gängig gebrauchen, schließt vielleicht zwei ungeprüfte Vorurteile ein, über die wir kurz nachdenken sollten.
Das erste Vorurteil: Gerechtigkeit erscheint uns als ein Gegensatz zur Liebe, zur Barmherzigkeit. Entweder wir sträuben uns dagegen, Liebe und Erbarmen anzunehmen, wo wir glauben, es liege hier eine Forderung der Gerechtigkeit vor, oder aber wir halten ein bloß gerechtes Handeln für kalt und herzlos, für zu wenig menschlich und fordern ein „Mehr“ gegenüber der Gerechtigkeit, das Mehr eben des Erbarmens.
Ist das wirklich ein Vorurteil? Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind nicht einfachhin dasselbe. Liebe, Erbarmen ist „mehr“ als bloße Gerechtigkeit, aber vielleicht sind Liebe und Erbarmen allein imstande, Gerechtigkeit zu sehen und zu üben. Ja, wenn wir in die Bibel hineinblicken, dann werden wir darüber erstaunen, daß Gerechtigkeit viel dichter bei Erbarmen und Liebe liegt, als dies bei unseren gängigen Vorstellungen der Fall ist. Gerechtigkeit, das hat im Alten Testament zumal etwas mit dem Bund zu tun, den Gott mit seinem Volk geschlossen hat. Er hat sich in unerfindlichem Erbarmen dem Volke Israel zugeneigt und es auserwählt. Und nun ist es seine „Gerechtigkeit“, daß er von sich her bei diesem Bund bleibt, ihn immer neu bestätigt und bestärkt, auch wenn das Volk selbst dem nicht entspricht. Gerechtigkeit für das Volk aber besteht darin, daß die Bundestreue zu Gott gehalten wird, auch dann, wenn menschliches Verstehen die Wege Gottes nicht mehr faßt, wenn die Situation äußerlich nach Dunkel und Verlassenheit von Gott aussieht. Diese Gerechtigkeit aber, die Israel Gott schuldet, ist unteilbar, sie ist auch Gerechtigkeit in der gegenseitigen Beziehung der Israeliten zueinander. Gott ist ihnen treu als seinem Volk, und deswegen sind sie gerufen, miteinander solidarisch zu sein, einander zu tragen und zu stützen. Nur so werden sie dem gerecht, wie Gott sie alle, wie Gott gerade auch den „anderen“ im selben Volk sieht.
Im Neuen Testament bleibt dies alles bestehen, nur wird es ausgeweitet: Gott hat grundsätzlich alle Menschen in seinen Bund berufen, er hat für alle seinen Sohn in den Tod gegeben, und daraus wächst für den Christen eine äußerste Solidarität mit der ganzen Menschheit. Sein Tun der Gerechtigkeit besteht in der Erfüllung des Neuen Gebotes, der Liebe, wie Gott liebt.
Doch was hat das zu tun mit der „gerechten Ordnung“ einer Gesellschaft, die doch schließlich nicht aus lauter überzeugten Christen besteht? Gewiß wäre es verkehrt, aus der radikalen Liebesforderung etwa der Bergpredigt eine Staatsverfassung zu machen. Das wäre geradezu die Verkehrung der Bergpredigt, ihrer gewaltlosen Liebe, die, sich nur entfaltet, wo das Unerzwinglichste des Menschen sich ihr erschließt, die Freiheit seines Herzens. Und doch kann der Blick auf die Bundesgerechtigkeit Gottes und die Bundesgerechtigkeit seiner Liebe, die wir einander, die wir allen schulden, uns die Augen öffnen für das, was gerade heute Gerechtigkeit allgemein nur bedeuten kann. Mit ganz nüchternen Augen angeschaut, ist jede Unzufriedenheit unter Menschen, jedes Unterdrücktsein von Menschen, jedes Abgeschnittensein von Menschen von der Entwicklung und dem Fortschritt der Menschheit eine Gefahr im Weltmaßstab. Wir sitzen alle in einem Boot. Wo immer in der Welt es Spannungen gibt, wirken sie hinein ins Gesamt der Menschheit, gefährden sie den Frieden, der nur gemeinsam zu tun und gemeinsam zu erhalten ist. Wenn ich nicht die Freiheit aller und die Entfaltung aller in der Welt bejahe und unterstütze, wenn ich nicht bereit bin, Gewalt abbauen zu helfen, die solche Freiheit und Entfaltung hemmt, dann bin ich gegenüber der Menschheit im gesamten schuldig geworden, dann habe ich die Ordnung und den Frieden gefährdet. Gottes unbedingtes Ja zu jedem Menschen und die Konsequenz, die das für unser Verhältnis zum Menschen hat, sind die Bedingung, um deutlich wahrzuneh- [s.p.] men, wie heute allein Menschheit leben kann, wie ihr Zusammenleben geordnet werden muß. Damit sind wir aber bereits dem zweiten Vorurteil auf die Spur gekommen, das unsere gängige Vorstellung von Gerechtigkeit begleitet. Gerechtigkeit bedeutet: jedem das Seine geben. Doch was ist das Seine? Um das festzustellen, wenden wir unseren Blick allzu oft nur zurück. Wir fragen, ob er sich das Seine durch einen Rechtstitel erworben oder verdient habe. Es wäre gefährlich, wollten wir die Geschichte außer acht lassen, wo es um das Maß der Gerechtigkeit geht. Es wäre aber noch gefährlicher, wenn der Blick in die Vergangenheit alles wäre. Die Zukunft der Menschheit ist gemeinsam, sie ist unteilbar. Es kommt darauf an, daß jeder Mensch die Chance erhält, an dieser Zukunft in Freiheit Anteil zu haben. Das ist das Fundament für alle weiteren Überlegungen zur Gerechtigkeit. Wer abgeschnitten wäre vom Anteil an der gemeinsamen Entwicklung, die ebenso die Mitwirkung aller wie die Nutznießung durch alle miteinschließt, dem widerführe Unrecht. Wer sehen will, was des anderen Recht ist, der darf nicht nur nach rückwärts schauen, er muß zugleich nach vorne blicken, dorthin, wohin der Zug schon abgefahren ist.