Gerechtigkeit besiegt Gewalt

Was heißt heute Liebe?

Im Himmel, so sagt die heilige Therese von Lisieux, werden wir keinem gleichgültigen Blick begegnen; denn wir werden erkennen, daß wir alle unsere Gnade einander verdanken. Dann aber ist der Himmel nicht private Seligkeit plus Wiedersehensfreude mit verstorbenen Verwandten und Bekannten, sondern Gemeinschaft mit Gott und zugleich Gemeinschaft miteinander in Gott. Man sitzt im Himmel nicht wie im Kino, ohne einander anzuschauen, im Dunkeln, den Blick allein nach vorne auf die Leinwand gerichtet, wo sich die beseligende Offenbarung Gottes abspielt. Man sitzt miteinander am Tisch, man lebt in der neuen, himmlischen Stadt. In der Tat, Hochzeitsmahl und Neue Stadt, das sind die großen Bilder der Bibel für die Herrlichkeit des Gottesreiches.

Dieses Gottesreich können Menschen nicht machen, es ist nicht Produkt menschlicher Tätigkeit und Fähigkeit, nicht Endstation innergeschichtlicher Entwicklung. Aber dieses Gottesreich hat dennoch entscheidend mit unserem Leben hier und heute zu tun. Gerade das Wort der heiligen Therese, das wir gehört haben, sagt es uns: Deswegen begegnen wir in der seligen Vollendung keinem gleichgültigen Blick, weil wir dort erkennen, was hier uns schon aneinander bindet und miteinander verbindet. Hier wächst die Liebe, die dort Seligkeit und Erfüllung bedeutet.

Dann aber ist es ein Zerrbild des Christentums, nur sein privates Heil zu suchen. Liebe als „gute Eigenschaft“ des Einzelmenschen, welche die Angriffslust dämpft und den anderen ein paar Almosen sichert, das ist noch nicht die Liebe, um die es Jesus so leidenschaftlich in seiner Botschaft vom Gottesreich geht. Nein, Liebe soll etwas sein zwischen uns. Daran, daß wir einander lieben, soll der Welt aufgehen, daß wir Jesu Jünger sind, sollen die Menschen um uns etwas wahrnehmen von der Macht und Wirklichkeit des Gottes, der Liebe ist

Dann aber muß jetzt schon gelten, was Therese von Lisieux über den Himmel sagt. Wer einem Christen begegnet, der darf keinem gleichgültigen Blick begegnen, keinem satten, verschlossenen, selbstgenügsamen Blick. Das meint aber keineswegs nur, daß man sich in der Nachbarschaft und in der Straßenbahn nett zulächeln, daß man auf den Armen und Unsympathischen ein freundliches Auge werfen, daß man im Betrieb und in der Familie einander ernst nehmen soll. Das gehört gewiß dazu. Wer es unterließe, hätte seinen Nächsten übersehen. Aber es gibt noch andere Nächste, für die unser Blick nicht gleichgültig sein darf: den Indio, den Vietnamesen oder den Südafrikaner, der sich namenlos hinter einer Zeitungsmeldung über Unruhe, Ungerechtigkeit und Krieg verbirgt, den Unbekannten, der bei einer Nachrichtensendung oder einem Bericht in einer flimmernden Sekunde über den Bildschirm huscht. Wer sich für diesen Nächsten nicht interessiert, der hat sich für Christus nicht interessiert.

Wenn Nächstenliebe aber mehr ist als eine private gute Eigenschaft, dann darf der Blick auf den fernen Bruder sich auch nicht in einer kurzen Fürbitte und einer dicken Spende erschöpfen. Reich Gottes: wenn Gott einmal ganz offenbar, ganz nah, ewig in unserer Mitte sein wird, kommen auch die Beziehungen der Men- [s.p.] schen zueinander in ihre Fülle, in ihre Freiheit, in ihre lebendige Ordnung. Diese lebendige Ordnung muß aber hier schon beginnen. Wenn es uns um Gott geht, wenn wir seinen Anruf im Evangelium ernst nehmen, dann können uns die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die anderen Menschen leben, dann kann uns das Geflecht der Beziehungen, in denen sich ihr Dasein entfalten kann oder in denen es verkümmern muß, nicht gleichgültig sein. Der Blick auf den andern muß sich ausweiten auf den Lebensraum, auf die Lebensordnung, auf die Gesellschaft, in weicher der andere existiert. Um ein Bild zu gebrauchen: Es genügt nicht, einem Notleidenden Brot in sein Haus zu bringen oder ihm das Zimmer in diesem Haus zu tapezieren, wenn das Haus über ihm demnächst zusammenstürzt. Die gerechte Ordnung menschlicher Lebensverhältnisse, menschlicher Gesellschaft geht also den Christen an, weil er Christ ist.