Ideologiekritik und christlicher Glaube

Was heißt Ideologie?*

Zuerst gilt es also zu fragen: Was heißt Ideologie?

Max Horkheimer schreibt in seiner Abhandlung „Ideologie und Handeln“: „Unter dem Namen ‚Ideologie‘ wird heute nur selten ein prägnanter Begriff gedacht. Das Wort ist wie viele andere, etwa ‚Entwicklung‘, ‚Lebensform‘, ‚Unbewußtes‘ aus der philosophischen und wissenschaftlichen Literatur in den alltäglichen Sprachgebrauch eingedrungen. Man könnte sagen, das theoretische Profil sei verlorengegangen, denn hinter der allgemeinen Vorstellung schwingt [17] nur noch eine vage Erinnerung an theoretische Gebilde mit, in denen der heute entleerte Begriff seinen Sinn gewonnen hat.“1

Wo läßt dieser Befund uns eine Möglichkeit, nach einem Begriff der Ideologie, nach einem theoretischen Profil des Redens von Ideologie zu fragen? Vielleicht, indem wir ansetzen bei den verschiedenen Einstellungen derer, die von Ideologie reden, zu dem, was sie als Ideologie verstehen. Da ergeben sich drei Grundtypen.

Der erste Typus entspricht weder dem ideologiekritischen Zeitbewußtsein noch der wissenschaftlichen Geschichte des Wortes Ideologie; er ist auch auffällig im Rückgang befindlich. Ideologie gilt hier als Synonym für „Weltanschauung“, Deutung der Wirklichkeit. Das Wort Ideologie ist in diesem Fall eine neutrale Vokabel ohne wertenden Beigeschmack, es gibt wahre und falsche Ideologien.

Ein zweiter Typus darf als der weitaus verbreitetste, in der Allgemeinheit nahezu ausschließlich gebrauchte gelten: Hier ist Ideologie ein abwertendes Wort, das die Sache, die es bezeichnet, kritisiert. Ideologie meint so zwar wiederum eine Deutung der Wirklichkeit, aber eben eine solche, die nicht sein soll; sie soll nicht sein, weil sie der Wirklichkeit nicht entspricht, weil sie nicht aus ihr selber wächst, weil sie die Wirklichkeit umbiegt und verfremdet. Der Ideologiebegriff, der sich im Anschluß an die Idolenlehre des Francis Bacon, der sich in der Aufklärung bei Holbach und bis hin zu Feuerbach findet, der Ideologiebegriff, den zumal Marx entwirft und der seit ihm vielfältig sich verästelnd ausbreitete, der Ideologiebegriff des Positivismus und schließlich auch jener, für den die Kritiker der Wissenssoziologie wie Max Horkheimer eintreten, entspricht dem soeben, freilich noch ganz äußerlich, gezeichneten Typus.

Einen dritten Typus erbringt die genannte Wissenssoziologie, für die vor allem Karl Mannheim anzuführen ist. Hier wird versucht, Ideologie als einen totalen Begriff zu verstehen, der indessen nicht mehr wertend sein soll. Jegliche Deutung der Wirklichkeit ist danach ideologisch, da sie aus ihr selbst nicht durchschaubaren Voraussetzungen erwächst, da sie Verhältnisse und Interessen fixiert, die erst im weiteren Verlauf der Geschichte des Denkens offenbar werden können. Es wäre – nach der Meinung solcher Wissenssoziologie – ein aussichtsloses Unterfangen, eine unideologische Deutung der Wirklichkeit geben zu wollen; denn die Deutung der Wirklichkeit erwächst je aus Voraus- [18] setzungen in der Zeit, die durch den Fortgang der Zeit überholt werden. Ideologie ist das Geschick des Denkens, das genötigt ist, die Welt zu deuten; indem es sie deutet, verfremdet es sie aber bereits. Dieser Typus eines wertfreien, alle Deutungen der Wirklichkeit im ganzen einschließenden Begriffes von Ideologie hat mit dem zuvor genannten abwertenden Ideologiebegriff freilich das gemein: Ideologie ist jenes, was nicht bleiben kann, was seine eigene Überholung und Kritik erforderlich macht. Geschähe sie nicht, bliebe eine Ideologie an sich selber haften, wollte sie sich als zeitlos gültig aufspielen, so wäre sie von allein Ideologie im schlechten Sinn.

Was nun ist allen gezeichneten Typen von Ideologieverständnis gemeinsam? Zumindest dieses eine: Von Ideologie kann nur gesprochen werden angesichts der Differenz zwischen der Wirklichkeit und ihrer Deutung. Auch wo Ideologie neutral als Weltanschauung verstanden wird, auch dort, wo man die eigene Weltanschauung als die wahre Ideologie ausgibt, gebraucht man das Wort Ideologie doch nur, weil man diese Weltanschauung als eine zutreffende Deutung der Wirklichkeit nicht nur von den nicht zutreffenden Deutungen, sondern eben von der Wirklichkeit selbst absetzt. Die „wahre Ideologie“ in diesem Sprachgebrauch ist der richtige und gemäße Zusatz des Denkens zur Wirklichkeit. Hier aber setzt die Ideologiekritik ein: Jeder Zusatz zur Wirklichkeit soll nicht sein bzw. er ist eben ein Zusatz und so nicht die Wirklichkeit selbst, nicht ihr reines und unverstelltes Anwesen aus sich selbst.

Im folgenden sollen die wesentlichen Züge gesucht werden, die den verschiedenartigen Ideologiebegriffen gemeinsam sind. Dazu genügt die Beschränkung auf den zweiten und dritten der gezeichneten Typen.

Der erste Zug, der uns am Verständnis der Ideologie als einer solchen auffiel, ist also die Differenz zwischen Wirklichkeit und Deutung der Wirklichkeit. Wirklichkeit meint hier nicht irgendein Wirkliches, sondern die Welt und das Dasein des Menschen in ihr im ganzen. Ideologie ist ein Gedankengebäude, das, wenn auch nicht explizit, so doch seiner Tendenz nach alles, eben die Wirklichkeit im ganzen, in sich einbegreift.

Worin liegt nun, diese Frage stellt sich sofort, die Differenz zwischen Wirklichkeit und Deutung im Fall der Ideologie? Sie liegt darin, daß die Deutung nicht zur Wirklichkeit selbst gehört, sondern eben ein Zusatz zu ihr ist, der nicht aus der Wirklichkeit selbst, sondern aus anderen Quellen erwächst. Indem dieser [19] deutende, zusätzliche Gedanke über die Wirklichkeit deutet, behauptet er: Die Wirklichkeit ist so. Er gibt also vor, die Wirklichkeit wiederzugeben, nichts anderes zu tun, als sie ins Licht zu stellen. Er stellt aber sie gerade nicht ins Licht, weil er seine wirklichen Quellen und Hintergründe nicht ins Licht stellt.

Die ideologische Täuschung erwächst also aus Bedingungen des Erkenntnisvorgangs. Sie kann nur aufgrund dessen entstehen, daß im Erkenntnisvorgang mehr lebt, als was er erkennend leistet. Ideologie ist so im eigentlichen Sinne nicht Täuschung, sondern Selbsttäuschung des Erkennens. Zwar kennt die Frühphase des ideologiekritischen Denkens, wie sie etwa Holbach repräsentiert, das Motiv der absichtlichen Täuschung. Eine Klasse oder Gruppe der Gesellschaft, die Priester oder die Herrschenden, erzeugen und verfestigen falsche Urteile über die Wirklichkeit, um ihre Herrschaft nicht einzubüßen. Je tiefer jedoch die Reflexion über das Ideologieproblem getrieben wird, desto allgemeiner verbreitet sich die Meinung, daß Ideologie zutiefst aus sich selbst nicht durchsichtigen Gründen erwächst. Wo auch im einzelnen die Gründe ideologischer Verstellung der Erkenntnis gesucht werden, stets stammen sie aus einer Schicht im Erkennen bzw. unter dem Erkennen, die nicht von der inneren Art des Erkennens ist. Der Gedanke, der der Ideologie zugrunde liegt, setzt ein Verständnis des Menschen bzw. der Gesellschaft voraus, für das die Differenz zwischen unbewußter Tiefe und bewußter Oberfläche, zwischen vitalem und voluntativem Unten und intellektuellem Oben kennzeichnend ist.

Die Gründe für das Entstehen von Ideologie liegen in diesem „Unten“. Und wohinaus will die Ideologie?

Die Deutung der Wirklichkeit im ganzen durch die Ideologie geschieht – nach ideologiekritischem Verständnis – um der Bewältigung der Welt und des Daseins willen. Wäre der Mensch nur ein interesseloses Wesen, so bräuchte es keine Deutung der Welt im ganzen auszubilden. Daß er sie ausbildet, beweist sein Interessiertsein an der Wirklichkeit im ganzen. Sie ist der Horizont seines Daseins, vor ihr und an ihr muß er sich bewähren. Die ideologische Deutung des Daseins ist nun sein Zugriff, der Welt und Dasein ihm zugesellt, ihm gefügig, ihm zum Feld seiner Selbstverwirklichung macht. Ideologie, so sehen es alle gängigen Ideologiebegriffe heute, wird ausgebildet im Interesse der Weltbewältigung. Die Ideologie ist also funktional ausgerichtet auf die Praxis. Sie ist Theorie um einer Praxis willen.

Hier kommen wir der wesentlichen Mitte des Ideologiebegriffes nahe. Ideologie [20] ist funktionale Erkenntnis, in der sich ein Wollen ausbildet, behauptet und festsetzt, ein Wollen, das die Wirklichkeit will, aber nicht sie will, wie sie ist, sondern will, daß die Wirklichkeit sei, wie die Ideologie es will und darum behauptend festsetzt, daß die Wirklichkeit so sei. Der Vorschuß des Wollens, der die Wirklichkeit nach sich selber und nicht an der Wirklichkeit bemißt, ist die Wurzel der Ideologie. Ideologie hat die Funktion, die Wirklichkeit als die her- und vorzustellen, als welche das Interesse sie sucht.

Woran läßt sich nun diese ideologische Verstellung eines Weltentwurfes erkennen? Daran, daß er von der wirklichen Wirklichkeit, wie sie sich jetzt erkennen läßt, überholt, daß er nicht mehr an der Zeit ist. Die Ideologie will an sich, daß ihr Gewolltes gegenwärtig bleibe. Die neue, wahre Gegenwart überholt jedoch das ideologische Wollen und seinen Entwurf der Wirklichkeit.

Eine weitere, allen Ideologiebegriffen gemeinsame Eigentümlichkeit drängt noch zur Sprache, die mit dem Zeitbezug der Ideologie zusammenhängt. Ideologie ist immer soziologisch, immer gesellschaftlich mitbedingt. Indem eine Ideologie Deutung des Ganzen zu sein versucht, will sie ja Deutung für andere, für alle sein. Sie will, daß andere ihr zustimmen. Nur so, nur in der Übereinkunft mit den anderen bezieht sich die Ideologie aufs Ganze, auf die Totalität der Wirklichkeit, die sie ja dem ideologischen Interesse gefügig zu machen strebt. Nur was für alle an der Zeit wäre, ist an der Zeit. Die Zeit, an der ein Verständnis der Wirklichkeit ist, ist geschichtliche, ist gesellschaftliche Zeit, ist Zeit als Gegenwart aller in ihr, als Übereinkommen aller im selben Gedanken, Verstehen und Handeln.

Tragen wir nun die beobachteten Züge eines allgemeinen Ideologiebegriffs zusammen, so erscheint Ideologie dann als der Entwurf eines an der Welt- und Daseinsbewältigung interessierten Wollens, der Welt und Dasein im ganzen deutet, darin aber nicht aus der Wirklichkeit, wie sie ist, sondern aus dem interessierten Wollen als einem solchen erwächst. Dies bedingt die Inkongruenz des Entwurfs zur Wirklichkeit. Diese Inkongruenz wird offenbar, indem ein sich je neu an der Wirklichkeit orientierendes Denken und Wollen die Fixierung und somit Überholtheit des ideologischen Entwurfes entlarvt. Das Bezugsfeld des ideologischen Entwurfs ist nie bloß individuell, sondern jeweils mit der Gesellschaft verflochten, sofern der ideologische Entwurf die Zustimmung der anderen sucht, ein Vorurteil für sie sein will oder umgekehrt aus dem Vorurteil anderer übernommen wird und miterwächst.


  1. Horkheimer, M./Adorno, Th.W.: Sociologica II, Frankfurt a. M. 1962, 38. ↩︎