Das Heilige und das Denken

Was heißt philosophische Phänomenologie des Heiligen?

Eine philosophische Besinnung auf das Heilige muß wissen, was sie unter dem Heiligen versteht, und muß unter dem Heiligen das verstehen, was sie vom Heiligen selbst her unter ihm zu verstehen hat.

Vom Heiligen selbst her: d. h. also nicht von einem willkürlich oder unausgewiesen angesetzten Begriff des Heiligen her, sondern aus seinem Sich-Zeigen. Dieses Sich-Zeigen gilt allein, wenn es in ein sich selbst als Denken helles Denken hineinblickt – d. h. in ein Denken, das sich als Denken sich selber zeigt; denn nur ein als Denken sich helles Denken ist Organ philosophischer Besinnung, und nur ein solches Denken kann auch scheiden zwischen dem, was sich wahrhaft ihm zeigt, und dem, was es bloß sich selbst ausdenkt.

Alles, was dem sich hellen Denken sich zeigt, ist mögliche Sache philosophischer Besinnung. Diese will ihre Sache indessen nicht nur verstehen, sondern sich selbst auf sie verstehen. Damit ist keineswegs gesagt, daß sich helles Denken alles, was sich ihm zeigt, aus sich selbst ableiten wolle; doch es will wissen, warum es zu ihm gehöre, daß sich gerade dieses ihm zeigt, warum es seine Möglichkeit sei, Zeuge solchen Sich-Zeigens zu sein. Es will das Sich-Zeigen nicht als bloßes Faktum hinnehmen, sondern in seine, des Denkens, Helle für sich selbst hineinnehmen. Verständnis des Gezeigten und Verständnis seiner selbst wollen ihm Eines, das Sich-Zeigen seiner Sache will ihm zu seinem eigenen Sich-Zeigen werden.

[10] Würde ihm hierbei die sich zeigende Sache nur Exempel und Moment seines Selbstverhältnisses, so würde ihr Aufgang aus sich selbst freilich verfremdet. Nur wenn sie von sich her sich ihm zeigen darf, zeigt sie sich rein. Sich helles Denken weiß indessen, daß es „nichts anderes“ als Aufgang seiner Sache ist, sich selbst als „bloßes“ Denken je ins „reine“ Denken verzehren, sich seiner eigenen Zusätzlichkeit zur Sache selbst gerade entledigen muß: Sich wollen und nur die Sache wollen ist dem Denken dasselbe, dasselbe aber gerade durch den lauteren Vorrang, den es der Sache vor sich selber gibt. Denken darf an sich selbst nichts anderes mehr sein als der Aufgang seiner Sache, es ist dies: sie von sich selbst her aufgehen zu lassen.

Das Denken ist sich selbst also nur treu, indem es seiner Sache treu ist, diese rein sich selber zeigen läßt. Die Identität des Denkens mit dem Sich-Zeigen der Sache ist im Denken von Gnaden des Sich-Zeigens der Sache her. Dieses Sich-Zeigen der Sache darf aber vom Denken so wenig der Sache selbst gegenüber behauptet und festgehalten werden, wie es sich selbst dem Sich-Zeigen gegenüber festhalten durfte. Nur indem die Sache nicht darauf festgelegt wird, sich bloß zu zeigen, nur wenn sie selbst sich dem Denken „antut“, zeigt sie sich wahrhaft. Gewiß muß das Denken darauf achten, daß nichts in ihm sei, was nicht von der Sache herkommt. Von der Sache aber darf alles, darf sie selbst herkommen, sie muß im Denken ihren Raum, unbegrenzten Raum für sich finden, nur dann zeitigt, nur dann zeigt sie sich selbst dem Denken. Wo das Denken sagte: Zeige Dich nur, dann geh wieder weg von mir!, da könnte sie sich nicht zeigen.

Mit der geforderten Beschränkung des Denkens aufs Sich-Zeigen der Sache ist eine Beschränkung des Denkens gemeint: es muß sich als Quelle möglicher Verdeckungen, Zutaten und Kombinationen ausschalten, damit nichts anderes als die Sache sich zeige. Nicht gemeint ist eine Beschränkung der Sache, die sie in die Distanz der bloßen Feststellbarkeit und Darstellbarkeit ihres Erscheinens im Denken eingrenzte. Denken ist nur wahr, wenn es sich dem von [11] der Sache her auferlegten Wesensgesetz ihrer selbst anmißt, wenn es, freilich als Denken in seiner Helle für sich selbst, sich dorthin begibt, wo die Sache in ihrem Eigenen aufzugehen vermag. Denken darf nichts, darf sich nicht hineinschauen in seine Sache, es muß ihr zuschauen. Sein Zuschauen darf aber nicht nur gegenüber bleiben, es muß sich freigeben in die Weise der Betroffenheit, in der je diese Sache nur als sie selbst bei ihm einzutreffen vermag.

Damit ist die Grundfrage einer philosophischen Phänomenologie erhoben, die für die folgende Untersuchung maßgeblich ist und mit der die philosophische Besinnung aufs Heilige im Ganzen sinngemäß beginnt. Diese Frage heißt: Wie ist das Heilige zu denken, daß es dem Denken heilig sei?

Das Heilige denken heißt: das Heilige sich zeigen, es aufgehen lassen – „lassen“ im Sinne sich freigebenden Zulassens –, es aufgehen lassen aber so, daß es als Heiliges nicht nur gewußt, und auch nicht nur so, daß es einem vom Denken distanzierten religiösen Vollzug, sondern so, daß es dem Denken selbst in sich selbst, in seiner Helle für sich selbst heilig sei, daß also das Denken selbst sich zum Heiligen als einem Heiligen verhalte. Erst wenn dieses die phänomenologische Besinnung scheinbar übertreffende Ziel erreicht wird, kommt sie zu sich selbst, dazu nämlich: auf um sich wissende Weise „nichts anderes“ mehr zu sein als der Aufgang des Heiligen selbst.1


  1. Eine so verstandene philosophische Phänomenologie setzt die grundlegenden Untersuchungen von: Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 1. Aufl., Breslau 1917; Aufsätze: das Numinose betreffend, 1. Aufl., Gotha 1923 und Scheler, Max: Vom Ewigen im Menschen, 1. Aufl., Leipzig 1921, geschichtlich voraus, unterscheidet sich aber von ihnen durch die andere Richtung ihrer Frage, die sich dem Denken als einem solchen zuwendet. Sie ist darin bewegt einerseits von der Selbstreflexion des Denkens beim späten Schelling und ihrer, sie freilich umgestaltenden Wirkung auf Denker wie Franz Rosenzweig, anderseits von dem Verständnis der Phänomenologie, das in § 7 (27–39) von Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 1. Aufl., Halle 1927 formuliert ist. Ihr Gang schaut jedoch nicht auf derlei Anstoß und Geleit, sondern unmittelbar auf die Frage, mit der sie beginnt, und somit auf ihre „Sache selbst“. ↩︎