Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Was ist für mich anders, weil es Jesus gibt?

Das neue Dasein: Sterben und Leben sind anders

Wozu sind wir geboren? Wenn wir uns mit dem Gewicht unseres Daseins diese Frage stellen, dann kommen uns zwei gegenläufige Antworten in den Sinn. Die eine: Wir sind geboren, um zu leben. Die andere: Wir sind geboren, um zu sterben. Das Leben hat eine innere Dynamik, sich selbst zu wollen und das abzuwehren, was es gefährdet, mindert, bestreitet. Das Leben ist zugleich von allem Anfang an Vergehen, Abnehmen, Verbrauch seiner eigenen Ressourcen. Wir können, der Selbstbejahung des Lebens folgend, das letztere außer acht lassen, einfach auf die offenen Lebensmöglichkeiten zugehen, sie ausschöpfen – und das andere kommen lassen. Aber sind wir dann nicht doch heimlich auf der Flucht, schleicht der Schatten des verdrängten Todes nicht auf unserem Weg mit, vergällt er nicht von innen her unsere Freude am Leben? Aber wenn wir umgekehrt uns auf das beständige Vergehen einstellen; wenn wir das in allem anwesende Ende nie aus dem Auge lassen; wenn wir die tausend kleinen Tode kosten, die den einen und großen Tod vorwegverkünden, verbittert sich dann nicht der Geschmack des Lebens? Entfaltet sich Leben überhaupt zu dem, was in ihm angelegt ist? Weil es Jesus gibt, können wir ihn fragen: Wozu bist du geboren? Er wird uns dieselben beiden Anworten geben, die wir uns selber geben können. Es ist Leben in Fülle, was er lebt, trotz aller Verborgenheit, Schlichtheit und Bescheidenheit. Wenn es die Worte nicht gäbe, die Begegnungen und die Taten, die uns von ihm berichtet sind, wir alle wären ärmer. Wahrhaft, sein Leben ist Leben. Aber es ist eben von allem Anfang an auch: Sterben. Alle Kindheitsgeschichten, die uns erzählt sind, haben es offenkundig oder hintergründig [53] mit dem Sterben zu tun. Die Anbetung der drei Weisen ist verquickt mit dem Kindermord von Betlehem und mit der Flucht nach Ägypten (vgl. Mt 2,1–18); die Darbringung im Tempel wird von Simeon bejubelt, aber er weissagt der Mutter das Schwert und sieht im Neugeborenen das Zeichen des Widerspruchs (vgl. Lk 2,34f); die festliche Pilgerreise des Zwölfjährigen nach Jerusalem mündet in die schmerzliche Suche der drei Tage, ehe die Seinen ihn im Tempel finden, Vorzeichen der drei Tage von Karfreitag bis Ostersonntag (vgl. Lk 2,45f). Doch es sind nicht einfach zwei Seiten, die das Leben Jesu hat. Schieben wir unserer Frage, wozu er geboren sei, die andere nach: Wozu lebst du? Wozu stirbst du? Und er wird uns antworten: Ich lebe, um Leben zu geben – an euch. Ich sterbe, um das Leben zu geben – für euch. Ich lebe und sterbe, damit ihr das Leben habt. Jesu Leben und Jesu Sterben haben dieselbe Pointe, sie geschehen für uns, sie geben Leben weiter. Und in diesem Leben für uns geht sein Leben nicht einfach hinweg, es verschwindet nicht, löst sich nicht auf in nichts. Dieses Leben für uns geschieht aus der Verbindung mit dem Vater, es ist Hingabe des Lebens an den Vater. Und gerade das im Tod weggegebene, nicht festgehaltene Leben wird vom Vater her sein und unser neues Leben. Jesus lebt und stirbt für den Vater, Jesus lebt und stirbt für uns, Jesus lebt und stirbt für das Leben, das wir mit ihm und miteinander haben. So aber löst sich der Streit zwischen den beiden Antworten auf die Frage, wozu wir geboren sind. Wir sind in Jesus hineingenommen, er hat unser Leben gelebt und ist unseren Tod gestorben. Er schenkt uns Anteil an seinem dreifachen Für. Unser eigenes Leben und Sterben sind in ihm hineingerückt in die befreiende Macht seines Für. Wir können Leben wagen, wir können frei atmen, indem wir leben; wir brauchen aber nicht hinwegzuschauen vom Sterben, den Tod [54] nicht zu verdrängen. Leben und Sterben haben in ihm ihr selbesWofür. Dies allein aber wäre zuwenig. Weil es Jesus gibt, empfangen Leben und Sterben nicht nur einen neuen Sinn, der sie miteinander versöhnt, Leben und Sterben werden auch anders in ihrem Geschehen, in ihrem Vollzug. Sterben ist anders, weil er da ist. Gewiß ist er nicht nur da für jene, die ihn kennen; er ist für alle gestorben und lebt für alle. Es gibt viel großes, demütiges, tapferes, ergebenes Sterben auch bei jenen, die nicht von Jesus Christus wissen, die äußerlich oder innerlich nicht von seiner Botschaft erreicht wurden. Er selbst erreicht alle. Und doch ist es, bei aller Gefährdung und Schwäche, ja bei aller vermehrten Verantwortung, die denen, die glauben, aus diesem Glauben zuwächst, etwas anderes, als Glaubender sterben zu dürfen. Ich meine keineswegs, daß uns die Abgründe des Todes erspart würden. Glaube hilft nicht heimlich am Sterben vorbei oder über es hinweg, wohl aber durch das Sterben hindurch. Wie ernst das Sterben für den, der an den Vater glaubt, bleibt, ja wird – wer hat uns dies deutlicher gezeigt als Jesus, als der Sohn selbst, im Schrei seiner Gottverlassenheit? Aber wir können nie mehr auf einem anderen Weg in den Tod und durch den Tod gelangen als in ihm, der für uns, an unserer Stelle gestorben, unseren Tod gestorben ist. Und so begegnen wir ihm in unserem Sterben zweimal: Er geht mit an unserer Seite durch den Tod – er erwartet uns zugleich bereits hinter der Pforte. Wir sterben mit ihm und sterben in ihn hinein. Es ist uns nicht verheißen, daß wir dies in jener Stunde als lindernden Trost empfinden werden, aber es ist uns geschenkt, es jetzt glaubend zu ergreifen: Du wirst mitgehen, es wird keine Wegstrecke geben, die nicht in deinem Weg für uns und mit uns drinnen ist. Und der mich richten wird, der über den Sinn meines Lebens endgültig entscheiden wird, das [55] bist du, mein Freund, mein Bruder, der für mich das Leben gegeben hat. Daß du mich richten wirst, ist nicht ein heimlicher Rückzug von dieser deiner Solidarität, im Gegenteil. Nichts anderes wird mich richten als deine Liebe. Nicht weil sie richten will, sondern weil nur Liebe, nur Bereitschaft, sich von Liebe beschenken zu lassen, bei dem die Seligkeit haben wird, der Liebe ist. Es ist eine ernste Frage, die ich mir stellen muß, immer neu: Bringe ich jene Liebe mit zu dir, der deine Liebe Antwort und Erfüllung sein kann? Aber schier noch ernster wird die andere Frage: Kann ich dir Antwort, kann ich dir Dank auf deine Liebe sein, geht von meinem Leben das Licht deiner Liebe aus und weiter? Sterben ist anders, keinen Deut weniger ernst, aber unendlich viel kostbarer und menschlicher, weil es Begegnung mit einem liebenden und geliebten Menschenantlitz ist, in dem Gott selbst mich anschaut. Sterben ist anders, Leben ist anders. Und im Grunde haben wir gesagt, weshalb. Denn wenn dies mein Sterben sein wird, dann ist das auch mein Leben: Gehen mit Jesus, Gehen auf Jesus zu. Er lebt; ich kenne sein Wort. Wenn ich mich ihm stelle, entziffern sich die Rätsel des Lebens. Nicht im Bescheidwissen, nicht in glatten und aufgehenden Anweisungen für alle Situationen, und doch in einer Antwort, die mehr sagt als alles dies. „Ich bin bei euch alle Tage“ (Mt 28,20) – du bist bei mir auch heute, auch jetzt. Du sagst ganz einfach dies: Ich bin da. Leben in der Gegenwart Jesu; leben so, daß er dabeisein kann; leben so, daß ich mich nicht absetze im Alleingang, daß ich ihn nicht verkenne und verletze; leben im Geleit seines Wortes; leben nach dem Maß der Liebe, wie er geliebt hat – dies ist die Verwandlung des Lebens. Dies sind immer seine Sterbens- und Lebenswege: für die Welt, heim zum Vater, zueinander. Hingabe für die ändern, Hingabe an den Vater, versöhnendes Sich-Einsmachen mit [56] den andern, dies ist der Dreierrhythmus des Lebens und Sterbens, und das Abenteuer des Lebens und Sterbens besteht darin, diesen Rhythmus je neu zu erhorchen und zu gehen. Alles ist geborgen in diesem Dreierrhythmus des Lebens und Sterbens Jesu, aber nichts ist „gelaufen“, jeder Tag und jeder Augenblick sind neu in der Gemeinschaft mit ihm.

Die neue Zeit: Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart sind anders

Nicht nur mein Dasein, mein Sterben und Leben werden verwandelt in der Begegnung mit Jesus, im Glauben, daß Er ist und da ist. Alles Dasein wird anders, die ganze Zeit und ihr Gefüge, die Geschichte werden anders. Begeben wir uns an den Punkt, an dem alles seine Gleichzeitigkeit, seine Gegenwart erfährt: in seine das All zusammenfassende Hingabe am Kreuz, die in seinem verherrlichten Dasein weitergeht, ewiger Augenblick ist (vgl. Eph 1,10). In dieser Hingabe, in dieser versöhnenden und verbindenden Liebe, in diesem – wie wir es nannten – „absoluten Zwischen“ haben wir das Maß und die Achse unserer inneren Zeitrechnung des Glaubens. Das heißt, wenn wir formelhaft ausdrücken, was unabschließbar Leben und Vollzug ist: In dieser einen Gegenwart des gekreuzigten und auferstandenen Herrn ergibt sich ein dreifaches Gefüge von Herkunft und Zukunft. Immer kommt der Sohn vom Vater her auf die Welt zu; immer kommt er von der Welt her auf den Vater zu; immer kommt er her aus der Liebe der Seinen, die um seinetwillen aufeinander zugehen, auf daß er in ihrer Mitte sei. Es gibt also eine dreifache Herkunft und eine dreifache Zukunft zugleich: Herkunft sind der Vater, die Welt, die anderen in der einen Gemeinschaft – Zukunft sind der Vater, die Welt, die anderen in der einen Gemeinschaft. Und [57] in dieser dreifachen Herkunft und Zukunft ist er Gegenwart, Herkunft und Zukunft zugleich. Was heißt dies für unsere Zeiterfahrung und Zeitgestaltung? Es bedeutet den absoluten Vorrang des gegenwärtigen Augenblicks, in welchem die Zuwendung zum je jetzt mich einfordernden Herrn fällig ist: zum Herrn, der im Nächsten und Fernsten mir begegnet; zum Herrn, der mich in seine anbetende, vernehmende, fürbittende Gemeinschaft mit dem Vater lädt; zum Herrn, der jetzt mitten unter uns dasein will. Es heißt zugleich: Ich kann nie mit Menschen und nie mit der Welt „fertig“ sein, aus Gottes Zuneigung bleiben alle und alles mir Zukunft. Ich kann nie die Zuversicht auf den kommenden Gott aufgeben, ich bleibe ihm immer Schuldner, aber nicht nur Schuldner der Liebe, sondern auch der Hoffnung. Ich kann nie mit der Gemeinschaft, mit der Kirche „fertig“ sein, sie wird immer unter der Zusage dessen stehen, der alle Tage bei ihr bleibt. Und es heißt schließlich: Ich habe immer eine mich geleitende Herkunft, die ich nie abschneiden kann: Gottes Ja, sein Ruf, seine Hand tragen und geleiten mich, die Liebe dessen, der sein Leben für mich gab, bleibt immer Quelle, aus der ich schöpfen kann. Ich komme aber auch nie nur für mich allein zu Gott, sondern stehe immer für die anderen, für alle. Und ich wachse immer heraus aus der Gemeinschaft des Glaubens, aus der Gemeinschaft mit dem Herrn selbst. Es gibt freilich noch eine andere Perspektive, Zeit zu betrachten und zu erfahren – und auch in ihr gilt: Zeit ist anders, weil es Jesus Christus gibt. Er hat alles, was war, in sich hineingenommen. Ich darf es ihm lassen. Ich kann es ihm mit meinem Aufrechnen, mit meiner Rache, mit meiner Angst, mit meiner Selbstanklage nicht mehr aus den Händen nehmen. Er hat es genommen, gutgemacht und verwandelt. Meine Aufgabe ist es, die Vergangenheit dorthin zu legen, wohin sie gehört: in Gottes Erbarmen. Das macht mich nicht [58] geschichtslos, nicht vergeßlich, im Gegenteil, es macht mich dankbar und macht mich frei, Gewesenem so zu begegnen, daß es nicht Gegenwart und Zukunft blockiert und vergiftet. Abschied nehmen können von der Schuld, der eigenen wie der fremden, aber auch Abschied nehmen können von den guten Taten und dem Erfolg, um schlicht und ganz für das Nächste und den Nächsten dazusein – dies ist die Konsequenz daraus, daß er da ist, der alles das an sich genommen hat, so daß nicht mehr wir dies festzuhalten haben. In ihm, der alle Vergangenheit an sich nahm, ist auch alle Zukunft. Nicht es kommt, sondern er kommt. So brauche ich nicht hinter die Zukunft kommen zu wollen, sondern kann sie sein lassen, was sie ist: Zukunft. Wie schrecklich wäre das Leben, wenn es nur der Vollzug fertiger Ansätze, nur das Ausfahren vorgelegter Geleise wäre! Gerade weil das Kommende schon da ist in ihm, können wir es kommen lassen, je gespannt auf sein neues Antlitz, auf die neue Begegnung mit ihm. So aber werden wir befreit zu der Gegenwart, die immer sein Augenblick ist. Kaum etwas anderes droht unserem Verhältnis zum lebendigen Herrn allerdings mehr zu entgleiten als unsere Zeit. Der Überdruck von Erwartungen und Ansprüchen setzt solche Mechanismen der anpassenden Entsprechung oder der unwilligen Abwehr dem entgegen, daß es uns ungemein schwer fallt, mit dem Glauben hier dazwischenzukommen. Um so wichtiger ist die Hingabe unserer Zeit am Anfang eines jeden Tages, die Heilung unserer Zeit am Ende eines jeden Tages und die Kontaktnahme mit seiner Zeit im Verlauf eines jeden Tages: Du bist da, es ist in deinen Händen, ich wage diesen einen Atemzug der Gelassenheit jetzt für dich! Vielleicht ist das Durchatmen mitten in den Bedrängnissen ein besonders wichtiges „Stoßgebet“, ein inkarnierter Akt unseres Glaubens, sozusagen ein Hauch des Geistes, welcher ausgeht von [59] dem, der auch und gerade in solcher Bedrängnis sagt: Ich bin da, ich gehe mit, du kommst zu nichts anderem und nichts anderes kommt zu dir – fürchte dich nicht, ich bin es.

Der neue Mensch: Ich, du und wir sind anders

Wenn ich daran glaube, daß Jesus zu mir „du“ sagt, dann wird mein Ich-Sagen anders. Es gibt wohl kein problemreicheres Wort in der Menschheitsgeschichte als das Wort „ich“. Natürlich ist da zu denken vor allem an die Vergötzung des „Ich“ oder die Verzweiflung des „Ich“ an sich selbst. Selber Gott sein wollen, sich Gott nicht Zutrauen und anvertrauen – unzählige Wirrungen und Katastrophen sind daraus erwachsen. Nur sich suchen oder sich nicht finden, weil kein Grund sich findet, der das „Ich“ trägt, diese beiden Unformen von Ich-Fixierung und Ich-Verlust fangen oftmals im Kleinen und Unscheinbaren an. Wie rasch sind wir dabei, bei allem, was geschieht, bei allem, was gut ist, den bitteren Nachsatz zu sagen oder zu denken: „Und ich?“! Oft genug sind wir wie die Kinder, die bei der Verteilung der Schokolade anstehen und sich entweder vordrängen oder enttäuscht Zurückbleiben: „Und ich?“ Es ist keineswegs verboten, Interessen zu haben, und eine absolute Selbstlosigkeit kann es gar nicht geben. Ich kann gar nicht anders, als, das Gute wollend, auch mich selber als gut und als heil wollen. Doch wo die Sorge um mich selbst mich gefangennimmt, wo sie das Prinzip, das einzige, das zumindest Leitende wird, da bringt dieses Ich mich selbst und die Welt in Unordnung. Ich brauche den, der sich um mich sorgt, so daß ich die Hände frei habe von mir. Es braucht den, dem ich mich gänzlich überlasse, weil ich ihm glaube, daß er mich mehr liebt, als ich mich selber lieben kann. Es braucht den, der mit seinem Dasein für mich mir zeigt, daß ich mich selber nur [60] dann finde, wenn ich nicht um mich kreise, sondern mich lasse. Nicht das Ich-Sagen soll ich verlernen, sondern in meinem Ich soll ich lernen, du und wir mitzusagen; dies aber vermag ich dann, wenn mein Ich lind aller Du und Wir mitgesagt sind von einem Einzigen. Sowie ich in dir bin und du in mir bist, ist alles anders, ist alles neu!, so darf ich zu Jesus sagen, der für mich Mensch geworden ist, der mein Menschsein in dem seinen annimmt und mitträgt. Für mich aber heißt dies: in jedem Ich-Sagen zugleich „du“ sagen zu ihm, in meinem Ja zu mir das Ja sprechen zu ihm, der mich hält und mich öffnet über mich hinaus. Genau diese Bewegung, genau dieser Überschritt tut ein weiteres Mal not angesichts meines Ich. Es gibt eine zweite Erfahrung, die wir schmerzlich immer wieder mit dem Ich machen: das Entschwinden des Ich in seine tausend Rollen und Posen hinein, die es sozusagen absaugen von sich selbst und in ungezählte Kontexte hineinreißen, so daß ich vor dem Spiegel kaum mehr weiß, wer ich selber bin. Mein Leben wird mir zum Film, den ich befremdet anschaue, und ich kenne alle Details des Films – nur einer ist mir fremd: der Schauspieler, der ich selber bin. Welche Rolle ist nun er selbst; wo zeigt er sich, wie er ist? Ich kenne mich nicht. Wo ich dann zum großen Gott, aber eigentlich noch unmittelbarer zum nahen Menschen, in dem dieser große Gott zugegen ist, zu Jesus Christus sagen kann: „Herr, du hast mich erforscht, und du kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir“ (Ps 139,1f), da werde ich erst wieder mit mir vertraut. Wer ich bin, woher soll ich es wissen? Aber eines weiß ich, daß du mich kennst. Ich kenne mein Gekanntsein von dir, von deiner Liebe. Ich finde mich als der von dir Ausgehaltene und Bejahte, finde mich in deinem Herzen, in deiner Wunde, und so kann ich leben, kann ich zurückstoßen auf mich selber, ich selber sein. [61] Es versteht sich wie von selbst, daß in solchem erneuerten Ich-Sagen auch das Du neu wird. Denn dort, wo ich mich finde, finde ich dich. Mich bedrängt zugleich die ungeheure Fremde, immer mehr hinter die Glaswand des analysierten, offengelegten, verfügten, berechneten Du zu blicken und doch diese Glaswand nie durchstoßen zu können, vor einem immer fremderen Rätsel zu stehen, und die andere Beschwer, die Überlast dieses Du nicht tragen, mich nicht auf die Fremde deines Geheimnisses einlassen zu können, so daß du dich wirklich auf mich verlassen könntest. Beide Nöte aber sind geborgen und gewendet in diesem Wissen, daß wir denselben Ort haben, daß wir bereits kommuniziert haben und kommunizieren miteinander in jenem Dritten, der dich und mich ganz in sich trägt, der dich und mich in seiner selben Wunde ausleidet und heilt. Im einen Tod aus Liebe sind wir beide erlöst, und so können wir unser Leben nicht mehr getrennt, nicht mehr abgeschirmt, nicht mehr teilnahmslos nebeneinanderher leben. Aber weil wir gekannt und geeint sind in diesem Dritten, gibt es zwischen uns eine neue Gelassenheit. Wir können einander in Ehrfurcht begegnen, weil je der andere und je ich selber versiegelt sind in der Liebe dessen, der uns geliebt und sich für uns hingegeben hat. Wir können ihm die Kraft, einander zu kennen und einander zu tragen, Zutrauen und dürfen entkrampft, demütig, zuversichtlich miteinander umgehen. Kommunikation wird befreit vom Überdruck der Ansprüche, erhoben über die Selbstunterbietung, sich in flüchtigen und funktionalen Beziehungen zu erschöpfen. Freigabe und Annahme, Bindung und Vertrauen gründen in dem, der uns Mitte sein will, welche uns ins Gleichgewicht bringt. Sicher, diese „Entlastung“ bringt eine neue Last, aber eine kostbare Last mit sich, die Last, einander nach dem Maß dessen zu lieben, der uns mit seinem Blut geliebt hat. Aber was Bonaventura von der Gotteserkenntnis sagt, gilt auch [62] von der Liebe nach dem Maß des Gebotes Christi (vgl. Joh 13,34f): „Wenn einem ein großer Berg die Kraft gäbe, ihn zu tragen, so wäre er leichter zu tragen als ein kleiner“(Bonaventura, I Sent d. 1a.3q. 1 ad 2. Ed. Quaracchi, t.I, p.39). Die nach dem Maß unserer selbst unmögliche Anforderung, den Nächsten, das Du bis zum letzten zu lieben, verwandelt sich und ihr Gewicht, indem wir das Ja zum Du mitsprechen mit dem, der zu uns selbst wie zu diesem andern sein eines, unteilbares Ja gesprochen hat. Der Umweg über den Herrn und sein Ja ist der nächste und sicherste Weg zum Du. Nochmals eingeschlossen in diese Verwandlung des Du ist die Verwandlung des Wir dort, wo wir uns einlassen auf die Liebe dessen, der uns bejaht und eint. Wir gehören zusammen, und so sind wir miteinander eins in seiner Liebe. Jeder, der mir begegnet, ist nicht nur von Jesus her mein Du, sondern ich bin mit ihm schon eins in jener Liebe, die ihn und mich erlöst. So ist grundsätzlich mit jedem Einheit, Gemeinschaft möglich, auch wenn diese gerade nicht „gemacht“ werden kann. Denn der Blick auf Jesus, auf seine freilassende Liebe läßt mich auch verstehen, daß ich den andern nicht in den Vollzug des Wir hineinzwingen kann und darf. Auch hier eine neue Gelassenheit, ein neues Zuwarten und Zugehen auf den anderen. Immer aber habe ich die Zusammengehörigkeit, das verborgene Wir zu leben, das aus der Liebe des Herrn vorgegeben ist. Ich stehe nicht für mich allein, ich kann nie sagen: „Sieh du zu!“ Ich bin mit dem andern umspannt in jenem Wir, das nun nicht mehr nur Schicksals- und Schuldgemeinschaft bedeutet, sondern Gemeinschaft aus der uns dieselbe Zukunft gönnenden und zuwendenden Liebe. Wir, das heißt „post Christum natum et mortuum“ nicht mehr Summe isolierter einzelner oder aus vielen Einzel-Ich zusammengesetztes Groß-Ich, sondern lebendige Beziehung [63] von vielen, die um so tiefer geeint sind, weil sie enthalten sind in dem einen, der jeden als ihn selbst und alle füreinander und aufeinander zu in seinem Blute befreit hat.

Das neue Ganze: Gott und Welt sind anders

Ja, Gott-Sagen ist anders, weil es Jesus gibt. Dies ist das Ungeheuerlichste. Gott ist und bleibt das geheimnisvollste und größte Wort in der Geschichte der Menschheit. Viele haben es mit vielen Stimmen gesagt, und diese Stimmen, auch die fremden unter ihnen, sagen uns etwas von ihm (vgl. Hebr 1,1). Um Jesu Christi willen dürfen und sollen wir in die vielen Stimmen der Menschheit hineinhorchen, um das, was Gebet und Versenkung, Nachdenken und Hingabe von Gottes Geheimnis erahnten und ertasteten, zu bergen und zu wahren. Und doch geht es nicht an, uns aus allen den Elementen, die unserem Denken und Kennen von sich aus zugänglich sind, sozusagen ein fertiges Subjekt „Gott“ zu erstellen, dem dann nur noch bestätigend, korrigierend, erweiternd und erhöhend die Prädikate beigelegt würden, die uns aus der Offenbarung Gottes an Israel und in Jesus bekannt sind. Nein, wir dürfen von Grund auf Gott neu erlernen, neu sehen, indem wir eintreten in das Verhältnis des Sohnes zum Vater, in das, was der Sohn uns vom Vater offenbart, der Sohn, der allein den Vater kennt (vgl. Mt 11,27). In Jesus hat Gott selber sich uns gesagt, mitgeteilt, geschenkt. Und weil dieser Jesus selbst zum Geheimnis Gottes hinzugehört, weil Gott selber in Jesus sich mitteilt, sich hingibt und hineingibt in unser Leben, deshalb ist jegliches menschliche Gottesbild in Jesus nicht nur gesteigert, vollendet und überboten, sondern Gott-Sagen ist von Grund auf neu und anders geworden. Noch einmal, in dieser Andersheit [64] des in Jesus Christus offenbaren Gottes ist aufgehoben, was das menschliche Herz und der menschliche Geist von Gott wissen. Aber wir müssen mit Jesus hineingehen in seine Beziehung zum Vater, um in seinem Geist Gott neu zu sehen. Genau dies ist es: Jesus lebt nicht nur die menschliche Gottbeziehung kraft einer tieferen Versenkung in den Abgrund Gottes, kraft eines radikaleren Lebens mit ihm oder auch kraft einer mystischen Schau oder offenbarenden Erleuchtung, sondern Gott selber gibt in ihm sich selbst und in der Mitteilung des Geistes wiederum: sich selbst. Der am Kreuz sich vollendende Abstieg Gottes ist eben Selbsthingabe Gottes an die Welt. Der im Kreuz sich vollendende Aufstieg zu Gott ist Heimgang Gottes zu Gott. Die im Kreuz uns einende, verbindende und erfüllende Mitteilung des Geistes ist Mitteilung Gottes, in der Gott sich selber gibt. Wir sind im Paschageschehen hineingenommen in einen Beziehungsraum, der – dies zu sagen sei gestattet – „Innenraum“ Gottes selber ist. Gott ist Liebe, die sich selbst verströmt, und sie verströmt sich so, daß die Vollendung Gottes in sich selbst gerade Mitteilung Gottes in sich selbst, dreifältige Liebe, Vater, Sohn und Geist, ist. Trinität ist nicht ein spekulativer Überbau über einen Gott, der uns in Jesus Christus seine Freundlichkeit gezeigt hat, sondern die Voraussetzung und Ermöglichung dessen, daß wir so geliebt sind, wie wir geliebt sind: Gott hat sich in Jesus ganz gegeben und uns ganz angenommen, in sich hineingenommen, und so werden wir erfüllt von dem Geist, der Gottes inwendigste Liebesgabe, Gott von Gott, ist. In allen Strophen der Antwort auf unsere Frage, was anders sei, weil es Jesus gibt, sind wir immer wieder auf diesen selben springenden Punkt gestoßen: Verwandlung von in sich ver-[65]festigtem Bestand in liebende Beziehung. Hier erreichen wir die Mitte, die Spitze, den Ursprung. Gott selber ist nicht verschlossenes Ich, sondern sich öffnende, sich in sich selber mitteilende, übersteigende Ursprünglichkeit, dreipersonale Liebe. Und weil Gott so anders ist, ist auch die Welt anders. Sie ist freies Werk, freies Geschenk Gottes, nicht mit Gott zu vermengen. Aber indem sie freigegeben ist an sich, in ihren Eigenstand, ist sie zugleich hineingehoben in die Beziehung – sie ist Feld gegenseitiger Beziehung und lebendiger Beziehung zu Gott. Nur die Liebe versteht Gott, weil Gott die Liebe ist. Aber auch nur die Liebe versteht die Welt, weil die Welt Geschenk der Liebe ist und nur Liebe dieses Geschenk verdanken, gebrauchen, „identifizieren“ kann. „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm 8,31) Wenn der Sohn und wenn der Geist, wenn Gott selber uns Geschenk ist, wie sollte das, was er schafft, dann nicht Geschenk, Geschenk für uns sein? Geschenk freilich, das es gerade zu wahren und nicht zu zerstören, dankbar zu gebrauchen, aber eben nur in der achtenden und wahrenden Liebe zu gebrauchen gilt.

Warum ist alles anders?

Alles ist anders, weil es Jesus Christus gibt. Aber warum ist alles anders? Die Antwort auf diese Frage haben wir bereits empfangen, indem wir mit Jesus in sein Verhältnis zum Vater, in die letzte und endgültige Eröffnung dieses Verhältnisses im Paschamysterium getreten sind. Fassen wir die Antwort, die uns da zuteil wurde, nochmals zusammen im Blick auf Jesus Christus. In ihm ist Gott selbst uns geschenkt, nichts [66] von Gott ist draußen, indem er selber sich uns hingegeben und seinem Geist uns mitgeteilt hat. In ihm ist zugleich der Mensch und ist die Welt, sind Leben und Tod, Zeit und Menschheit Gott geschenkt. Ihm übergeben sind sie zu sich selber befreit, als sie selber angenommen. Die klassische Aussage der Christologie, daß in Jesus Christus, in seiner einen Person, der zweiten Person der Heiligsten Dreifaltigkeit, kraft der Menschwerdung aus dem Heiligen Geist die göttliche und die menschliche Natur ungetrennt und unvermischt miteinander vereinigt sind, ist alles eher als eine bloß dürre Formel. Sie ist das gültige begriffliche Ertasten der je größeren Wirklichkeit, jener Liebe, die Gott selber ist und die sich in Jesus Christus ganz an uns verschenkt und ganz uns annimmt und in sich hineinnimmt. Alles ist anders, weil Gott Liebe ist, weil diese Hebe in Jesus Christus bei uns ist und weil wir in Jesus Christus und durch ihn in Gottes Leben sind.