Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“
Was ist geschehen?
Die Frage drängt sich auf: Was sind die Erfahrungen und die Kräfte, die in solcher Frömmigkeit bedrohend wegziehen von der Mitte, die verdunkelnd sich zwischen den Frommen und seinen Gott schieben? Konkret: Was ist bei Reinhold Schneider vorgefallen, daß er sich selber im „Winter in Wien“ als einen anderen erfährt gegenüber jener Epoche, da er mit prophetischer Kraft Menschen zum Glauben und zur Hoffnung aus dem Glauben begeisterte? „(I)ch würde am liebsten die Wandlung verbergen, die seit einigen Jahren unter der Entschleierung gewisser düsterer Perspektiven in mir in Gang gekommen ist. Die Menschen guten Willens sehen in mir den, der ich war, als mein Name da und dort genannt wurde; und die Zeit also, da ich mich in religiösem Sanitätsdienst bemühte und mich keineswegs schämte, ein bißchen literarisches Ansehen – und literarischen Hochmut – durch die Veröffentlichungen von Traktaten zu beeinträchtigen. Ich würde wahrscheinlich den mir verbliebenen Rest mit einem gewissen Ingrimm an ähnliche Unternehmungen setzen, wenn ich heute die Berufung dazu spürte“ (31f.).
[100] Wir wollen unsere Frage nur im Umriß beantworten und diesen Umriß allein aus den unmittelbaren Aussagen des „Winter in Wien“ gewinnen. Doch zunächst müssen wir nochmals, radikalisierend, scheinbar den jetzt fälligen Programmpunkt kontrastierend, auf den ersten Akt zurückgreifen: ein frommes Buch. Eine solche Qualifikation wäre nur teilweise gerechtfertigt, wenn sie sich allein auf die Partien bezöge, die sich mit Gott, Religion, Christentum beschäftigen. In der Tat, die Haltung der Frömmigkeit prägt Schneiders Umgang mit Natur und Geschichte, mit Leben und Kultur insgesamt, die sich ineinanderweben zum Stoff dieses „Winter in Wien“. Seine kritische Einstellung gegenüber der bloßen Kritik kennzeichnet die Grundperspektive seines Sehens und rückt das Gemeinte, eine nicht auf fromme Gegenstände beschränkte Frömmigkeit, ins Licht: „Ich sage nicht, daß der das Gute findet, der es sucht. Aber wer das Schlechte sucht, findet es gewiß. Und es kennzeichnet uns, es brandmarkt uns, daß wir die das Böse Hervorziehenden für klug halten, die das Gute Betonenden für schwach begabt. Und doch fordert es sehr viel mehr Verstand, das Gute zu erkennen als das Schlechte, verlangt die Darstellung der Vorzüge weit mehr Begabung als die der Fehler – und sehr viel mehr Willen, Ethos, Humanität, menschliche Weisheit, Persönlichkeit“ (84). Nach der schwebende Zartheit, präzise Vielfältigkeit und Einheit des Klanges versammelnden Schilderung der geliebten Landschaft des Neusiedler Sees bestimmt Reinhold Schneider seinen Standort: „(So) ist unsere ratlose Antwort Ehrfurcht vor dem Unfaßbaren, vor einer Daseinsgemeinschaft hinter der unüberschreitbaren Grenze“ (95). Das Grundwort der Frömmigkeit unseres Buches heißt Ehrfurcht. Reinhold Schneider ist es eine „Ehre“, vor den Reichskleinodien zu stehen, deren unzerstörbares Geheimnis in seiner Macht und Ohmacht er wie kaum ein anderer erfährt (vgl. 198). Museen der Geschichte, der Natur, der Kultur sind ihm nicht tote Reservoire, weil ihm die einzelnen Stücke der Einstieg des Fragments ins Ganze sind, das Sakrament, in dem das lebt, worauf es weist. „Wer sollte die Reliquien erhabener Schicksale … nicht verehren, nicht dankbar dafür sein, daß sie in großartiger, beziehungsreicher Darbietung die Nachwelt anrufen, ihr sagen, was Geschichte war?“ (247). [101] Solche Verehrung, solche Ehrfurcht sind alles eher als ein Sich-Zurückträumen aus dem Anruf der Gegenwart in eine imaginäre Welt des Gewesenen. Im Gegenteil, diese Ehrfurcht schenkt die Klarsicht, um das Bedrohliche des Morgen und das Fällige des Heute unbestechlich wahrzunehmen: „Vielleicht, das ist die einzige Hoffnung dieser Jahre, würde es (das Angesicht Gottes) sich wieder erzeigen, wenn die Menschen sich in Ehrfurcht freimachen würden von allem, was bisher Geschichte war“ (250).
So ist es genau diese Frömmigkeit, die auch im Religiösen Reinhold Schneider behutsam macht gegen verfügendes Wissen und vorschnelle Antwort. Daher die Kritik an Claudels Lehrstück (vgl. 12), am brillanten Argumentieren der Theologen (vgl. 240f.) und an Swedenborgs „Sicherheiten“: „Aber ohne Gnade versetzte der schwedische Seher nach Seherart Freunde und Verwandte in die Hölle. Wer mit Gott auf du und du steht, maßt sich Gottes Richteramt an“ (252).
Frömmigkeit in allem, Frömmigkeit, die das Geheimnis wahrt, aber gerade darum sich keinem Geheimnis, keiner Wirklichkeit – und Wirklichkeit ist so Geheimnis – entzieht. Hier berühren wir, vor allen sachlichen Gründen, den Grund, der es in der Frömmigkeit des „Winter in Wien“ zur todesgefährlichen Spannung kommen läßt. Die Frömmigkeit, die sich keiner Erfahrung versagt, ist gefordert vor dem Gott, der doch der Gott des Ganzen ist. Dann aber wird der Fromme anfechtbarer für die Rätsel des Abgrundes, wehrloser gegen die sich nichtlösenden Fragen, verwundbarer durch das Befremdliche. „Ich fühle, daß solche Fragen mich isolieren und die Menschen enttäuschen oder verletzen, die noch ein wenig von mir hielten oder Trost suchen, ohne bekümmert zu sein. Die Theologie kann solche Probleme auflösen, vernichten, nicht aber den Lebensgehalt, die Daseinserfahrung, die ihr Wurzelgrund sind. Man kann die Pilze abräumen, die ja nur Fruchtkörper sind; oder sie vermodern in ihrer Vergänglichkeit; aber das Fadengeflecht unter der Erde stirbt darum nicht. Es hat sich um meine Wurzeln geschlungen, zieht das Wasser aus der Erde und leitet es ihnen zu. Es gibt eine Abgrenzung der Existenz, die keine Verneinung, keine Verleugnung ist, viel eher leidensbewußte Begnügung“ (100). Die Frömmigkeit ist nicht von außen angefochten, sondern von [102] innen – das ist das zutiefst Schockierende des „Winter in Wien“. Die Anfechtung aber hat ihre eigene Frömmigkeit – das ist ein tiefstes Geheimnis des Dichters.
Erst von dieser Mitte aus erschließt sich Antwort in den einzelnen Auskünften auf unsere Frage: Was ist geschehen?