Was heißt „katholisch“ in der katholisch-sozialen Bildung?

Was ist nicht mehr „katholisch“

Wie wirkt sich die verschobene „Basis“ für das Verständnis des Wortes „katholisch“ auf die Grenzen dessen aus, was in einer Theorie des Sozialen „katholisch“ heißen darf? Negativ formuliert: Wo liegen bleibende Grenzmarken, außerhalb derer eine Theorie des Sozialen nicht mehr „katholisch“ heißen könnte? Hierbei geht es nicht darum, einzelne faktische Positionen zu bezeichnen und sie gewissermaßen „kirchenamtlich“ als mit der „gesunden Lehre“ nicht mehr verträglich abzutun. Es geht viel eher um eine idealtypi-[15]sche Behandlung von Grundsatzpositionen, die dem Ansatz, aber auch der wesenhaften Entwicklung dessen nicht entsprechen, was „katholisch“ zur Sache des Sozialen zu denken ist. Gerade durch diese negative, aussondernde Bewegung kann die Reflexion alsdann leichter zur positiven Bestimmung dessen vorstoßen, was mit „katholisch“ in der Synthese „katholisch-sozial“ auch heute noch gesagt ist.

Was ist also heute nicht mehr als „katholisch“ zu verstehen?

Zweifelsohne wäre es katholisch nicht möglich, die christliche Verantwortung in einen Bereich in sich geschlossener Übernatur allein abzudrängen, so daß demgegenüber die faktischen Verhältnisse der Gesellschaft, die wirkliche Welt, wie sie ist, als „wertneutral“ erschienen, als unberührbar vom Glauben und seiner Entscheidung. Wo Glaube und Glaubensentscheidung in sich bleiben, ohne sich umsetzen und bewähren zu müssen in der Gestaltung welthafter, gesellschaftlicher Gegebenheiten, da liegt eine Spaltung der Wirklichkeit vor, die mit dem katholischen Verständnis nie zu vereinen sein wird. Ein von den Prinzipien christlicher Verantwortung unberührter Pragmatismus, der das „Weltliche“ als belanglos für den Glauben nach immanenten Gesetzen des Gebrauchs und Erfolgs behandelt, widerspricht der Totalität des Anspruchs Gottes. Gewiß, Gott läßt zwar alles es selbst sein, gerade so aber erweist er sich als der universale Gott, als der Gott „des Himmels und der Erde“.

Der kritisierten Position verwandt, wenn auch in einem erheblichen Punkt von ihr verschieden, ist die andere, die zu einem bloßen Pragmatismus, zu einer bloß neutralen Sach- und Zweckgerechtigkeit einen Offenbarungspositivismus hinzuaddiert. Dies sähe etwa wie folgt aus: Wo konkrete biblische Anweisungen vorliegen, sind sie einzuhalten; wo die Bibel nichts sagt, kann man sich verhalten, wie man will, das hat mit dem Glauben nichts zu tun. Der Unterschied zur erstgenannten Position besteht also darin, daß eine partielle Zuständigkeit der Offenbarung für das Soziale anerkannt wird, doch diese Zuständigkeit erschöpft sich in jenen Regeln, die durch positive Schriftaussagen abgedeckt werden. Es versteht sich wohl von selbst, daß ein Aufhören des Wortes Gottes am Rand seiner Buchstaben einer lebendigen Beziehung zur Offenbarung zuwider ist. Die Spaltung des Bewußtseins zwischen einem Binnenbereich des Glaubens und einem dem Glauben gegenüber neutralen Bereich der Weltlichkeit würde so keineswegs überwunden.

Das ebenfalls „unkatholische“ Gegenteil einer solchen Spaltung des Bewußtseins wäre indessen die Konfusion, die Vermengung ins Einerlei. Eine radikale Verlagerung der Offenbarung und des Heiles, das sie kündet, in den Bereich des gesellschaftlich Gestaltbaren, Machbaren, eine rein „horizontale“ Deutung des Christentums läge eindeutig und grundsätzlich außerhalb der Spannweite des Katholischen. Welthafte, gesellschaftliche Wirklichkeit ist [16] mitbetroffen und mitgemeint vom Anspruch Gottes. Sein Handeln und seine Verheißung gehen aber nicht in dem allein auf, was die Menschen in der Gestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens erreichen, vollbringen und erfahren können.

Allerdings entspricht es – wenn auch hintergründiger – dem Maß des Katholischen ebenfalls nicht, soziales Verhalten und Handeln allein auf dem Weg metaphysischer Deduktion bestimmen zu wollen. Schon Thomas von Aquin legte Wert auf die Tugend der prudentia (pro-videntia). Sie meint den Vorblick vom Maß des Wesens auf die konkreten Bedingungen, unter denen es verwirklicht werden muß, die Zusammenschau des vorgegebenen Wesensmaßes mit den faktischen, aus ihm nicht ableitbaren Gegebenheiten. Die Synthesis dieser beiden Elemente und nicht ihre Auslöschung ins Undifferenzierte wird der komplexen Wirklichkeit gerecht. Die Erkenntnis der Wesensordnung ist nicht wie ein auswendig zu lernendes „Gedicht“, das, in den konkreten Situationen des Daseins heruntergesagt, den Maßstab sittlichen Handelns automatisch hergäbe. Sittliches Handeln besteht vielmehr in der „Übersetzung“ dieser Erkenntnis, in ihrer immer neuen Anwendung auf die Situation. Hierzu ist aber der immer neue, unvoreingenommene, nicht durch vorgefertigte Schemata verstellte Hinblick auf die Situation vonnöten. So entspricht es allein auch dem Charakter der Antwort, den sittliches Handeln auszeichnet, der Antwort auf das Wort Gottes, das in der Gegebenheit der Schöpfungsordnung wie auch in der Gegebenheit der Offenbarung den Menschen anrührt. Was „Gerechtigkeit“ meint – ein für das Soziale gewiß entscheidender Begriff –, sollte im Licht dieser Erwägung der prudentia, der Vor-sicht, neu bedacht werden.

Ist Gerechtigkeit nur Reaktion auf Vorgegebenheiten, denen es gerecht zu werden gilt? Erhält jeder das Seine schon durch den bloßen Rückgriff auf die Titel, Rechte und Ansprüche, die aus dem, was schon ist, herrühren? Muß Gerechtigkeit sich nicht vielmehr orientieren am bonum, am Ziel des Guten, das jedem den Anteil am Ganzen und die eigene Entfaltung im Anteil am Ganzen und in der Mitgestaltung des Ganzen gewähren will? Eine „gerechte Ordnung“ wäre dann eine solche, die aus den konkreten Verhältnissen jene Situation heraufführt, die allen die Teilhabe am Guten gewährleistet und die zugleich das, was für alle gemeinsam und für jeden im Blick auf sich selbst und aufs Ganze gut ist, erkennbar und erreichbar macht. Das „Wort“ des Wesens, welches im sozialen Handeln und Verhalten sich inkarnieren soll, wäre dann nur zu erkennen im Blick, der sich nach vorn, in die Zukunft richtet; Gerechtigkeit wäre Zielgerechtigkeit. Das Ziel selbst wären hierbei die Entfaltung aller und die Entfaltung des Ganzen, die Teilhabe aller am Ganzen und die Kommunikation aller miteinander in der Kommunikation am Ganzen. Sie erforderte eine neue Weise von prudentia (pro-videntia): Es gilt, nicht mehr nur vom gegebenen Wesensmaß auf die gegebenen Verhält-[17]nisse, es gilt, zugleich von den gegebenen Verhältnissen auf das zu blicken, was für diese Verhältnisse die sie lösende, entwickelnde Gabe zu sein vermag. Gerechtigkeit im sozialen Leben erfordert demnach kein bloß „deduktives“, sondern ein zugleich „prospektives“ Naturrecht. Und für dieses „Naturrecht“ gäbe sich wie von selbst die Konvergenz mit der Offenbarung: Was von den natürlichen Gegebenheiten her gut für die Gesellschaft und gut für den einzelnen in dieser Gesellschaft ist, geht zuhöchst und zuletzt auf im Blick auf die Verheißung des Reiches Gottes und die Berufung zum Reich Gottes, welches das kommende ist. Wie schon betont, ist indessen hiermit keineswegs die Wirklichkeit dieses Reiches Gottes allein in das hinein verlegt, was menschliches Bemühen und Planen im Verlauf der Geschichte vermögen. Ebensowenig ist einer Deduktion konkreter gesellschaftlicher Normen und Programme aus theologischen, insbesondere eschatologischen Prämissen damit das Wort geredet.

Die letzte Bemerkung über „Gerechtigkeit“ bedeutet indessen bereits einen Vorgriff auf die Frage, die es im folgenden noch eigens thematisch auszuarbeiten gilt, auf die Frage nach dem positiven Sinn dessen, was das Wort „katholisch“ heute für den Bereich des Sozialen sagt.

Was heißt „katholisch“ heute im Kontext katholisch-sozialer Bildung? Die Antwort darauf läßt sich nicht aus einer bloßen Analyse der Veränderungen gewinnen, die unsere Situation von früheren abheben; sie ist auch nicht das Ergebnis der negativen Abgrenzung dessen, was an sozialen Theorien und Theoremen außerhalb der Spannweite des Katholischen liegt. Ein neuer, positiver Einsatz des Gedankens tut not. Er soll im folgenden skizzenhaft versucht werden anhand eines Wortes, das schon oft – freilich mißverständlich genug – zur Bezeichnung des spezifisch „Katholischen“ bemüht wurde: anhand des Wortes „und“.