Der Himmel ist zwischen uns

Was von der Kirche bleibt

Wir sind hartnäckig: Wenn es zuhöchst darauf ankommt, dass wir Jesus in unserer Mitte haben, wenn dies die Achse unseres christlichen Glaubens und Lebens ist, wie besteht davor die Wirklichkeit unserer Kirche? Was fällt uns spontan ein, wenn wir „Kirche“ hören? Gebäude, Institution, Sonntagsmesse, Kirchensteuer, Papst und Klerus, Gebote und Verbote, Dogmen und Erlasse, Kindergärten und Krankenhäuser, vielleicht noch Vereine und Pfarrgemeinderäte. Zweifellos, das gehört dazu. Aber alles das wird einmal nicht mehr sein. Wenn wir uns nur dafür einsetzen, dann setzen wir uns nicht für das ein, was bleibt.

Paulus fragt im 1. Korintherbrief, welche Dienste und Gaben, welche Funktionen und welche Erweise des Geistes zur Kirche gehören, und er mahnt, gerade das Unscheinbare, leicht nur als zweitrangig Geltende nicht zu verachten. Aber noch leidenschaftlicher weist er auf etwas anderes hin: Erkenntnis, die Geheimnisse durchdringt, Glaubenskraft, die Berge versetzt, Hingabe, die sich selbst verzehrt, nützen, für sich allein genommen, letztlich nichts; alles das nimmt ein Ende. Allein die Liebe bleibt (vgl. 1 Kor 12 und 13). Und wir dürfen hinzusagen: Amt, Sakramente, Verkündigung, Institutionen sind unabdingbar, solange Kirche auf dem Weg ist durch die Zeit, ohne das könnte sie nicht leben. Und doch wird es vergehen, es ist nur vorläufig, es ist Gerüst, nicht Bau. Am Ende, so lesen wir wiederum im 1. Korintherbrief, [56] wird nur noch sein: Gott alles in allem (1 Kor 15,28). Gott in seiner ganzen Fülle wird offenbar sein als das Licht, in dem wir alles sehen, als die Quelle, aus der alles entspringt, als die Seligkeit, die alles erfüllt, als die Atmosphäre, in der alles lebt. Nichts wird uns von ihm trennen, nichts wird seine Nähe mehr brechen, er wird allem und allen der Nächste sein. Er in einem jeden, er über allem, er zwischen allem. Aber gerade so werden wir und werden die Dinge nicht verlöschen, nichts wird untergehen in Gott, sondern alles aufgehen in ihm.

Genau das meint Herrschaft Gottes, Reich Gottes. Diese Herrschaft, dieses Reich Gottes sagte Jesus an, als er predigte, als er Wunder wirkte, als er Menschen berief. Vom Reich Gottes sprechen alle seine Gleichnisse. Nur um dieses Reiches willen hat auch Kirche ihren Sinn. Kirche ist nicht einfach Reich Gottes, aber sie ist der Lebensraum inmitten der Geschichte, in welchem schon jetzt dieses Reich sich bezeugt, ja in dem es anhebt.

Als die Mitte zum Rand kam, als Jesus die Nacht, die Schuld, die Last dieser Welt zu der seinen machte, genau da fing Gott an, alles in allem zu sein. Nichts mehr ist draußen, in allem sagt der Sohn sein liebendes Ja zum Vater und vernimmt der Sohn das auferweckende, befreiende Ja des Vaters. Wo der Auferstandene lebt, wir dürfen sagen: wo er zwischen uns lebt, da lebt schon das Endgültige. Sicherlich, Jesus ist da in mir und dir. Er spricht in seinem Wort und in jenen, die es uns mit Vollmacht ausrichten. Sein hingegebener und verherrlichter Leib ist uns in der Eucharistie geschenkt, durchdringt uns schon jetzt, baut uns schon jetzt auf zum Leib des Herrn. Doch Amt und Wort und selbst die Eucharistie sind nicht Ziel, sondern Weg. Weg freilich, auf dem uns das Endgültige in der Vorläufigkeit entgegenkommt. Wo aber der Herr zwischen uns lebendig ist, da bricht das Endgültige, das uns [57] auf diesen Wegen entgegenkommt, durch in die Erfahrbarkeit, da ist ein Stück Himmel bereits auf der Erde, das Stück Himmel, das es uns möglich macht, an jenen Himmel zu glauben, der noch aussteht. An seiner Liebe zwischen uns, an unserer Einheit miteinander, und das heißt doch zutiefst: an ihm in unserer Mitte wird die Welt erkennen …

Das ist Fest in unserer Alltäglichkeit, Licht im Dunkel jenes Glaubens, der noch auf das Schauen wartet. Deswegen hat es seinen Sinn, ja seine Notwendigkeit, dass Glaubende sich versammeln und sich treffen über Entfernungen und Hindernisse hinweg, nicht um dieses oder jenes ins Werk zu setzen, sondern einfach um in seinem Namen zusammen zu sein. Deswegen ist er in unserer Mitte auch überzeugender, anziehender, mächtiger als unser Argumentieren, Reden, Agieren, selbst als alle Gaben des Geistes, sofern sie in der Hand des einzelnen bleiben.

Wo Jesus in unserer Mitte ist, da drängt er danach, sich auf jegliche Weise uns zu schenken. Es wächst die Achtsamkeit auf sein Wort, die Bereitschaft, es sich von jenen sagen zu lassen, die er in Vollmacht gesandt hat, es wächst die Behutsamkeit, ihn im eigenen Herzen zu bewahren und in jedem Bruder, auch dem fremden und unbequemen, zu suchen, es wächst die Kraft, ihn im Schmerz, selbst in der Verlassenheit, zu umarmen, es wächst der Hunger, sich in den Sakramenten der Kirche mit ihm zu vereinen, ihn im Brot leibhaftig hineinzunehmen in unsere eigene Leibhaftigkeit, seine Unsterblichkeit einzulassen in unser Sterben und Vergehen.

Es entsteht eine überraschende Wechselwirkung: Weil Jesus in unserer Mitte ist, sehen wir Jesus in allen Gestalten seiner Gegenwart – und umgekehrt stärken und vertiefen diese vielfältigen Begegnungen das Leben mit ihm in unserer Mitte. Er zwischen uns, das ist wie der Lautsprecher, der erst die [58] Sender vernehmlich macht, die uns den Herrn auf vielfältige Weise zutragen. Es ist wie die Atmosphäre, in welcher seine vielfältige Gegenwart sprechend wird und nicht zur starren Objektivität vertrocknet. Erst dort kann der Herr sich in seiner ganzen Fülle geben, wo er in einen Raum tritt, der bereits von ihm erfüllt ist.

Wenn wir mit ihm in unserer Mitte bereits leben, dann kann der Funke seines Wortes zünden. Wenn wir in unserer Mitte ihn bereits wohnen lassen, dann werden wir auch einen Fremden, der hereintritt, wie den Herrn selber aufnehmen. Wenn der Herr in unserer Mitte uns alles sagen darf, dann werden wir uns auch von denen, die ein Amt in der Kirche haben, alles, sogar das Härteste, wie vom Herrn selber sagen lassen. Wenn wir daran glauben, dass nicht nur etwas vom Herrn, sondern der Herr selber in unserer Mitte ist, dann wird gerade auch die Eucharistie zum immer wieder überraschenden und alle anderen Gaben überbietenden Geschenk: Gott selbst gibt sich so radikal in unsere Mitte, dass er sich leibhaftig, wie nur ein Mensch es kann, an uns verschenkt, an uns verliert: Er durchdringt mit seinem Leben unser Leben, er schenkt sich uns leibhaftig: Er wird zum Brot. Und in diesem Brot nimmt er, der den Selbstverlust des Todes durchstößt ins österliche neue Leben, uns jetzt schon mit in jene Zukunft, die noch aussteht. Das Brot des Lebens wird zum Unterpfand unserer eigenen Unsterblichkeit. In die Gegenwart des Herrn unter uns reicht die Zukunft einer verklärten Welt und einer verklärten Leibhaftigkeit durch die Eucharistie verborgen bereits herein. Unsere Einheit miteinander und mit ihm in unserer Mitte verdichtet sich in der Eucharistie: Wir werden gemeinsam die Gabe, der Leib, der sich mit dem Herrn und als der Herr dem Vater schenkt.

Leben mit Jesus zwischen uns, das ist alles eher als die [59] Selbstgenügsamkeit einer Gruppe, die nichts außer sich kennt. Der Herr zwischen uns lässt uns keine Ruhe, bis er nicht zwischen vielen, zwischen allen lebt. Der Herr in unserer Mitte entfesselt eine eigentümliche Dynamik. Überall dort, wo Menschen an den Herrn glauben, will er in der Mitte sein. Und er will zwischen den lebendigen Zellen, die von ihm her leben, wiederum die eine, einzige Mitte sein. Wo er die Achse des Lebens wird, da wendet er den Blick über den eigenen Kreis hinaus. Gruppe drängt zur Gemeinde, Gemeinde zur Kirche aus den vielen Gemeinden. Die Leidenschaft des Apostels Paulus, dass die Gemeinden einander dienen, einander von ihrem Reichtum und von ihrem Glauben mitteilen, dass sie dem Apostel Boten freistellen, die ihn begleiten und seinen Dienst für die anderen Gemeinden mittragen, kann dort nicht fehlen, wo Menschen den Herrn unter sich erfahren und sich auf ihn einlassen.

Er unter uns ist also das Geheimnis nicht nur von zweien oder dreien, die in seinem Namen am selben Ort versammelt sind, es ist das Geheimnis der Kirche. Immer wieder müssen Menschen einander verlassen, muss jeder für sich selbst seinen Dienst tun an der Stelle, wohin er einsam und unvertretbar gestellt ist. Aber auf noch so große Entfernung hin kann er die erklärte Bereitschaft mitnehmen, im Namen Jesu eins zu bleiben mit seinen Schwestern und Brüdern. Und jener, der durch den Tod hindurch zum Vater und in unsere Mitte kommt, vermag auch über noch so empfindliche Distanzen hinweg unser lebendiges Zwischen zu bleiben. Sicher drängt es uns dazu, immer wieder ein Fest zu bereiten, zusammenzukommen, in der Nähe zueinander seine Nähe zu erfahren. Aber diese Erfahrung gibt auch den Mut und die Kraft, in der scheinbaren Isolierung jene Verbindung mit ihm und miteinander zu halten, die Anfang einer neuen Welt ist.