Anfang bei der Zukunft: Anfang beim Vater

Wege des Denkens zu Gott

Decken wir nochmals in Michelangelos Fresko die rechte Bildhälfte ab. Der Blick des Adam wird vom erwartenden und empfangenden sodann zum fragenden Blick. Die gesamte Gebärde seines Leibes ist Ausgriff nach etwas, was sie von sich her nicht greift. Das ihm zugesprochene Wort wirkt, aber es ist noch nicht ganz in ihm drinnen. Schon greift es Platz in ihm, aber es ist noch nicht zu seiner Antwort geworden. Und so dreht sich zugleich die Bewegung: Er selber ist Wort, das nach Antwort auslangt, welche dieses Wort erfüllt und stillt. Das Wort, das er, noch nicht eingeholt vom Wort, in sich zu eigen hat, heißt: Frage.

Der Mensch ist ein Fragender. Sofern er in sich selber steht, angewiesen auf das, was er aus Eigenem erreicht und vermag, steht er, noch genauer betrachtet, zwischen Wort und Wort. So auch beim Adam des Michelangelo: Geschaffen, geformt ist er schon, aber das Leben, das ihn ganz zu dem macht, was er ist, die Beseelung, das steht noch aus. Michelangelo schiebt seinen Adam gewissermaßen zwischen ein erstes und zweites „Werde!“ Gottes. So geht auch unser Fragen. Wäre nicht schon das Wort in uns, könnten wir nicht fragen. Fragen ist immer nachfragen. Vielleicht in einem ganz radikalen Sinn, vielleicht dergestalt, daß das Wort, das wir schon wissen, nur die Kundgabe unseres Nichtwissens ist, aber ohne das als solches mitgebrachte, „gewußte“ Nichtwissen könnte keine Antwort Antwort sein.

Der Mensch fragt nun nach der Quelle der Zukunft. Woher kommt es, daß er immer schon aus ist auf ein Wohin, nicht anders kann und nicht anders will? Er will das Wort, das sich ihm zuspricht, vollziehen können, daher möchte er die Spuren dieses Wortes sichern, sie zusammenlesen, den Pfeil des Seins, der auf ihn zuführt, also umdrehen, damit er sicher und eindeutig hinziele auf den entscheidenden Punkt, den Ursprung.

[155] Rückfrage: Ist nicht die führende Richtung philosophischen Fragens nach Gott dem genau entgegengesetzt, wie wir hier vorgehen? Steht da Gott nicht am Anfang der Schreibzeile, wir finden uns irgendwo in der Mitte oder am Ende und buchstabieren nun langsam und allmählich zurück? Hier aber, bei unserem Ansatz blicken wir doch auf den noch unbeschriebenen, leeren Rand des unendlichen Blattes, auf die unverbrauchte Zukunft und glauben, daß von dort her die Hand greife, die da am Schreiben ist.

Mir scheint indessen, wir dürfen in der Tat auch die großen überlieferten Wege denkenden Fragens nach Gott so deuten, wie wir dazu ansetzten. Nur im Zug nach oben und vorne, nur aus dem Wirken des Guten, das uns ruft, reden, denken, sind wir. In der Gedankenwelt eines Platon und auch bei Aristoteles ist die Zielursache, das also, was aus der Zukunft her bestimmend drinnen ist im Jetzt, jene der Ursachen, die je das Spiel eröffnet.

Wir müssen es uns versagen, hier die fünf Wege des Thomas von Aquin1 oder auch den ganz anders gerichteten Gedanken eines Anselm von Canterbury2 mit all seinen Folgegestalten, zu entfalten und als Wege zur Einholung jener Zukunft, die immer schon ist und immer schon größer ist und ohne die wir nicht sind und zu der hin wir unterwegs sind, zu identifizieren. Zwei Hinweise müssen genügen.

Der erste betrifft den Ansatz des Thomas und jener Tradition, die sich auf ihn berufen kann. Mit einem Wort gesagt, ist der Ausgangspunkt für Thomas das „Seiende unterwegs“. Was immer wir antreffen, was immer sich uns zu sehen gibt, das ist unterwegs. Es kommt von weiter her als nur von seinem Jetzt, als nur von sich, es treibt und weist weiter hinaus als nur bis zu sich und seinem Jetzt. Nur vom Ganzen und Größeren her, nur von dem her, was durch keine Reihe von Ursachen oder Zwecken sich einholen läßt, kann dieses Unterwegssein sich klären. Das Unterwegssein [156] des Seienden ist die Spur, die den Ruf verstehen läßt, der aus dem Ganzen, Unbedingten als der anfänglichen Ursache rührt. Dieser unbedingte Ursprung ist nicht ein Punkt am Anfang, der in ein im Grunde ebenso schon immer existierendes, neben ihm und um ihn herum offenes Nichts hinauswiese, der Ursprung ist jene Fülle, die immer schon alle Leere ausgefüllt und überholt hat. Diese Leere ist nichts in sich, sie ist nur der Zwischenraum, der sich im „Sein unterwegs“ auftut.

Im zweiten Hinweis geht es um den zu Thomas gegenläufigen Ansatz, der seit Anselm vielerlei Variationen in der abendländischen Denkgeschichte erfuhr. Ausgangspunkt ist nicht das „Sein unterwegs“, sondern der Gedanke, über den kein größerer hinaus gedacht werden kann, weil er jenes denkt, was selber das Größte ist, selber jenes, über das hinaus nichts Größeres sein kann: der „Gedanke am Ziel“, der Gedanke absoluter Fülle und Ursprünglichkeit, der Gedanke des Unbedingten. Dieser Gedanke – so Anselm und jene, die ihm auf recht unterschiedlichen Wegen folgen – kann kein bloßer Gedanke sein, er ist Zeichen der Wirklichkeit, die er denkt. Der Gedanke, im Grunde jeder Gedanke steht in der Position des Adam in unserem Bild. Er geht auf seinen Inhalt, auf seine Sache zu. Er bewegt sich nach vorn. Nicht überall, wohin er blickt, sind die Gegenstände, die er sich zu erträumen vermag. Aber daß er überhaupt blicken kann, das heißt doch, daß er bereits angeblickt ist von einem grenzenlosen Licht. Die Möglichkeiten des Denkens sind nicht ein unendlicher, leerer Raum, in den es seine endlichen Gebilde hineinzuprojizieren vermöchte, dieser unendliche Raum ist Lichtraum, der sich ihm zustrahlt.

Nicht das Auge macht das Licht, sondern das Licht schafft sich das Auge. Was in allem Denken über jeden Gedanken hinaus dem Denken zukommt, das hat das Denken entbunden; der höchste, universale, alles zusammenfassende Gedanke ist kein bloßer Gedanke, er ist die Kunde aus jener [157] Quelle der Zukunft, der alles Denken entgegengeht, auf die alles Denken zudenkt.

Sein ist je Sein unterwegs und so Zeugnis des Ziels. Denken ist je Denken auf das äußerste Ziel hin, Auslangen bis zu diesem Ziel, und so ist es wiederum Zeugnis vom Ziel.

Die Kritik der „Gottesbeweise“, wie ein problematischer Name diese Denkwege nennt, ist schier so alt wie diese Wege selbst. Sie hat recht – aber eben nur dann recht –, wenn nicht Sein und Denken je schon in ihrer Zeugnisstruktur, in ihrem mit ihnen selbst unlöslich verbundenen und sie konstituierenden Verweischarakter wahrgenommen und ernst genommen sind.


  1. Vgl. S. th. I q. 2 a. 3. ↩︎

  2. Vgl. Proslogion, cap. 2. ↩︎