Theologie als Nachfolge

Weggestalt bonaventuranischen Denkens

Das Denken Bonaventuras bleibt uns fremd, wenn wir es als kunstvolles Gebäude, es kommt uns nah, wenn wir es als Weg betrachten. Von der auf diesem Weg erreichten Spitze aus klärt sich zweierlei: einmal die Führung des Weges, man könnte sagen der Wegbau, die Weggestalt, zum anderen die Wegzeit, die Gegenwart, Herkunft und Zukunft solchen Denkens. Die Weggestalt: Bonaventuras erster Gedanke ist nicht ein Gedachtes, von dem er sich als Denker oder uns als Mitdenkende subtrahiert – und folglich können auch wir, wenn wir ihn verstehen wollen, uns nicht von seinem Gedanken subtrahieren und ihn bloß „objektiv“ betrachten. Angeblicktsein von Gott, hinorientiertsein auf ihn, ihn anrufen, von ihm erleuchtet werden und seinem Licht folgen, das sind nicht äußere Bedingungen, in die wie in einen Rahmen das davon ablösbare Gemälde gespannt werden könnte; dieser „Rahmen“ ist Konstitution des Bildes. Die Anfangssituation hält sich durch, bleibt Situation jeden Schrittes bis hin zum Ziel: auch zuletzt geht es wieder um Begegnung, um gegenseitiges Innesein – ja noch mehr: die Sache selbst, welche der Gedanke entfaltet, ist Beziehung, will im Denken gerade als Beziehung aufgehen. Die Transparenz aller Inhalte aufs trinitarische Geschehen ist der thematische Konvergenzpunkt im vielschichtigen Werk Bonaventuras. Die wirkliche, beziehentliche Ausgangssituation, die leitende Intention und die einheitsstiftende Intuition hängen bei Bonaventura unmittelbar zusammen, ja sind identisch. Somit aber ist gerade die Mehrseitigkeit des Ansatzes, die viel- [169] fach sich verschlingende Gegenbewegung im Denken Bonaventuras zugleich Denken von Einheit, Aufgang von Einheit. Die eine Sache Bonaventuras ist Gott. Alles trägt sich für ihn ein auf den Weg Gottes und zu Gott, entspringt dem Weg und mündet in den Weg und bildet den Weg ab, der ihm Gott selbst ist: der Dreifaltige, in dem die Bewegung vom Vater ausgeht und durch die Mitte des Sohnes sich zurückwendet und zugleich verschenkt im Heiligen Geist. Einheit aus dem Ursprung, die ihrerseits Mehrursprünglichkeit nicht nivelliert, sondern stiftet, in ihr sich darstellt und erfüllt – das führt zu der eigentümlichen Integrationsbewegung, die Bonaventuras Denken in den unterschiedlichsten Hinsichten gelingt. Ob wir das Verhältnis Philosophie – Theologie, Freiheit – Gnade, Logik der Produktivität – Logik der Liebe, Seinsdenken – trinitarisches Denken anvisieren, überall zeichnet sich dieselbe Figur: vom unteren Moment führt zum oberen eine Linie des Aufstiegs, bei dem der je nächste Schritt den Sinn, die Intention und die „Potenz“ dessen einholt, aber zugleich überbietet, was in der Stufe darunter angelegt ist. Diese Logik des Aufstiegs ist kontinuierlich, aber sie ist es nicht aus sich selbst, sondern aus dem Sprung, zu dem die Kraft aus dem oberen Moment erwächst. So verweist der Aufstieg auf einen eröffnenden und vollendenden Abstieg, der das Ganze trägt. Es ist der Abstieg der Liebe, deren Konsequenz und Stringenz, deren innere Mächtigkeit das Sich-Lassen, die unselbstverständliche Äußerung und Entäußerung, eben die Freiheit abzusteigen ist. Das Ganze wird so vom Oben integriert aus dem Sprung sich gebender Liebe. Dieser Sprung hat seine eigene Logik; die Überraschung, das unerrechenbare Geschenk sind seine Gangart. Das Licht der Liebe deckt aber nicht nur ihre eigene Logik auf, sondern auch die Logik des Aufstiegs: der untere Pol wird erst voll verständlich und wird erst integriert, indem er sich aufheben läßt und in der Kraft solcher Aufhebung selber aufhebt zum oberen hin. Die Logik der Liebe zerstört nicht die Logik des Seins, sondern verwandelt sie in ihr Eigenes. Dann aber heißt das „Prinzip“, das den ganzen Wegbau bonaventuranischen Denkens bestimmt, Liebe; und wie diese Liebe in [170] sich selbst, in ihrer Konstitution den zugleich absolut notwendigen und absolut freien Weg vom Vater durch den Sohn zum Geist durchläuft, so durchläuft sie in ihrer entäußernden Äußerung, in ihrer Offenbarung und Mitteilung den anderen Weg vom dreifaltigen Ursprung über die Menschwerdung durch den Wendepunkt des Kreuzes hin zur vollendeten Communio Gottes mit der erlösten Menschheit. Fragen wir zusammenfassend nach der Gestalt des Weges, der sich so in allen seinen Phasen als Weg der Liebe zeigt, dann könnte die Formel heißen: Koinzidenz von Proportion und Steigerung, von Integrationskraft und Sprengkraft. Bis in den Sprachstil hinein zeigt sich solche Spannung. Das Bleibende, das Unzerstörbare, das je neu Aufleuchtende ist Verhältnis, ist Gleichklang, ist Entsprechung. Und doch ist solche Proportion nicht beruhigtes Schwingen in sich selbst, nicht geschlossener Kreis, sondern bewegte Spirale. Proportion und Übermaß, Rationalität und Ekstase, konsequenter Weg und überraschender Sprung, Rückkehr zu sich selbst und Komparativ über sich hinaus sind dasselbe, da je beide Gestalt der einen Liebe sind. So resultiert die Notwendigkeit, den Weg der Liebe bis zum Äußersten nachzudenken, aus einem Ziel, das durch Denken gerade nicht mehr erreicht werden kann, sondern nur durch das Verschenken, durch das Sterben allen Denkens; und dieses Ziel ist die Alleinigkeit der Liebe, die das Denken und den Menschen in sich aufnimmt – und darin eben in die Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott. Ziel des Weges ist der Sabbat; die Todesruhe des siebten Tages ist die Folie der Auferstehung – im Weg Christi, im Weg des Denkens, im Weg des menschlichen Lebens, im Weg der Schöpfung.