Der Weg zur Einheit der Christen als geistlicher Weg

Wegweisung aus Gottes Wort

Leitfaden für unsere Bemühung soll daher auch ein Schrifttext sein, der zu den fundamentalen apostolischen Weisungen der Einheit gehört: der Abschnitt des Philipperbriefes Kap. 2, 1–11:

„Wenn es also Ermahnung in Christus gibt, Zuspruch aus Liebe, eine Gemeinschaft des Geistes, herzliche Zuneigung und Erbarmen, dann macht meine Freude dadurch vollkommen, daß ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig und einträchtig, daß ihr nichts aus Ehrgeiz und nichts aus Prahlerei tut. Sondern in Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst. Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen. Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat Gott ihn über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ‚Jesus Christus ist der Herr‘ – zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Wir wollen keine exegetisch einläßliche, zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten redaktions- und formgeschichtlicher Zuordnungen entscheidende Exegese dieses bedeutsamen und problemreichen Abschnittes versuchen. Wir lassen uns einfach ein auf die Textgestalt, wie sie im Philipperbrief vorliegt, und deren immanente „Logik“. Dies erscheint gerechtfertigt, weil unser Fragepunkt nicht dadurch anders geortet oder in andere Perspektiven gerückt wird, wie die Textteile genetisch zu beurteilen und wie sie redaktionell verändert worden sind. So wichtig diese Fragen für die Exegese des Textes in sich sind, seine paränetischen Ziele und deren Verknüpfung mit dem Kerygma bleiben im wesentlichen davon unberührt; ja, eine von der Textgestalt und ihrer immanenten Logik ausgehende Betrachtung legt sogar eine Voraussetzung für die „exegetische“ Betrachtungsweise frei. Die Zweiteilung zwischen einer Paränese als Ziel der Rede und einer Begründung aus einem vom Verfasser vermut- [34] lich in der Substanz bereits vorgefundenen Hymnus, der das österliche Kerygma im Schema von Erniedrigung und Erhöhung Christi darbietet, steht zudem außer Frage.

An dieses selbst richtet sich indessen nochmals eine Frage: Ist es berechtigt, diesen Text für den Weg der Christen in verschiedenen Kirchen zur Einheit in Anschlag zu bringen? Dagegen spricht aufs erste die andere Ausgangssituation: Es handelt sich im Philipperbrief um eine einzige Gemeinde, bei welcher Unterschiede im Bekenntnis des Glaubens offenkundig nicht bestehen. Die Aufgabe der Einheit, die sich dieser Gemeinde stellt, liegt in der Anerkennung der verschiedenen Eigenarten, Charismen, Personen. Das Bekenntnis, welches im Christushymnus, vermutlich als zitierbare Vorgabe für die Gemeinde, begegnet, ist gerade die Basis, auf welcher das Einswerden im Vollzug gewahrt werden, wachsen, sich vollenden kann.

Bei näherem Hinsehen zeigt sich indessen gerade hier die Berechtigung, den Text in dem beabsichtigten Sinn anzuwenden. Zum einen ist das hier vorgegebene Bekenntnis auch über die Schranken der Unterschiede zwischen den Konfessionen hinweg gemeinsamer Grund. Diese fundamentale Einheit im Bekenntnis ruft aber die getrennten Gemeinden nicht weniger als die eine Gemeinde dazu auf, aus seiner Kraft die Einheit des Lebens zu suchen. Zum andern gilt allgemein das hier vor Augen gestellte Begründungsverhältnis: Ihr findet in Jesus Christus, in dem, was ihr gemeinsam von ihm glaubt und festhaltet, das Modell, den Grund und die Verpflichtung, diesem Bekenntnis auch in eurem Verhalten zu entsprechen, und diese Entsprechung kann nicht nur in der Vertikale, in eurem Verhältnis zu Christus und mit Christus zum Vater geschehen, sondern Ort der Bewährung ist auch und besonders euer gegenseitiges Verhältnis. Solche Umsetzung des am Verhältnis zwischen dem Sohn und dem Vater im Geist Abgelesenen auf euer Verhältnis zueinander ist zudem die Kraft, um die gegebene Einheit nicht zu verlieren, nicht zu verletzen, sondern zu bewahren. Wir dürfen, auf unsere Verhältnisse übertragen, hinzufügen: die Kraft, den Weg zur Heilung gebrochener Einheit zu finden.