Theologie als Nachfolge

Wegzeit bonaventuranischen Denkens

Weggestalt und Wegzeit lassen sich bei Bonaventura nicht auseinanderreißen. Die Weggestalt ist selbst zeitlich. Schon der Ansatz des theologischen Denkens als eines „wirklichen“, beziehentlichen zeigt die Dimensionen der Herkunft aus Gottes zuvorkommendem Handeln, der Ankunft seines Rufes im Einsprung der [171] Nachfolge, der Zukunft des vollendeten Friedens, auf welche der Weg solcher Nachfolge von Anfang an hinläuft. Und diese Ansatzsituation ist keine bloße Episode, welcher der weitere Weg entlaufen könnte; sie bleibt die Situation eines jeden Schritts. Ja, man kann in einem fundamentalen Sinn sagen: Die Sache der Theologie selbst ist zeitlich; denn sowohl trinitarisches Selbstgeschehen wie inkarnatorischer Ausgang und soteriologischer Rückgang Gottes und menschlicher Mitgang mit Gott sind geprägt von Herkunft, Ankunft und Zukunft. Doch solche Zeitlichkeit ist nicht nur eine innere Verfassung der einzelnen theologischen Themen und ist auch nicht nur ein Existential des theologischen Denkens und des theologisch Denkenden. Bonaventura selbst „objektiviert“ die Zeithaftigkeit der Theologie, wenn er diese in der Reductio auf den dreifachen Schriftsinn bezieht: den allegorischen, der alles einzelne auf die Grundbotschaft hin durchsichtig macht, den moralischen, der in allem die Nachfolgesituation aufdeckt, den anagogischen, der überall die eschatologische bzw. mystische Perspektive aufreißt. Das trinitarische Geschehen und das inkarnatorische Handeln Gottes werden zur Herkunft, die Zeit der Kirche als Zeit der Antwort auf Gottes Ruf zur Gegenwart, die Einung des Menschen mit Gott und die Vollendung der Geschichte im Frieden des himmlischen Jerusalem zur Zukunft, die den Ort aller Theologie und jeder einzelnen theologischen Aussage umreißen. Theologie ist nicht nur zeithaft, sie ist geschichtlich bestimmt. Existentiale Zeitlichkeit und heilsgeschichtliche Position stehen aber nicht nebeneinander, sondern ineinander; in der Wegzeit eines jeden Schrittes, den theologisches Denken setzt, wird die heilsgeschichtliche Wegzeit präsent und maßgeblich. Es gibt in der Schrift und in der Theologie nicht Partien, die von der Herkunft, andere, die von der Gegenwart, und nochmals andere, die von der Zukunft handeln; trotz verschiedener Schwerpunkte des Sprechens ist das ganze Geschichts- und Zeitgefüge an jedem Punkt gegenwärtig. Unmittelbar an ihm selbst angeschaut: In allen seinen Dimensionen ist Bonaventuras Denken ur-kundlich. Das Denken selbst wird auf die es eröffnende und tragende Ur-kunde des Seins, [172] das im Denken aufgespürte Sein auf die darin mitgeteilte Urkunde des Seins-selbst, der reinen Wirklichkeit, also: Gottes hin gelesen. Die Welt und alles, was ist, geben Kunde vom Logos als der Urkunde, dem Urbild, in dem ihre Möglichkeit und Wirklichkeit vorumfaßt und als Mitteilung göttlichen Sich-Gebens ausgelegt sind. Die Worte der Schrift, die Inhalte der theologischen Überlieferung wiederum werden als die Urkunde vom dreifaltigen Gott und von seinem sich öffnenden Über-sich-hinaus in Jesus Christus gelesen – alles wird zur Botschaft von der Liebe, die Gott ist und die Gott schenkt. Man könnte dies als die theologische Version und Weiterbildung der franziskanischen Maxime verstehen, das Evangelium „sine glossa“, ohne Beiwerk und Nachtrag, in seinem reinen Urtext leben zu wollen1 – Urtext schließt für Bonaventura so aber gerade Übersetzung nicht aus, sondern ein, wie Liebe eben ihr Ankommen beim Anderen, ihr Sichgeben einschließt.

Ebenso allgegenwärtig wie dieser „allegorische“ Schriftsinn ist bei Bonaventura auch der „moralische“, allerdings in einem mehr als bloß moralischen Sinn: die Urkunde des Evangeliums ist Ruf, und alles, was ist, alles, was dem Denken sich zeigt, ruft diesen Ruf mit. Er ruft in die Entsprechung, in die Nachfolge, ins verantwortliche Maßnehmen. So appelliert Bonaventura immer wieder an die Reinheit des Herzens, an die Offenheit des Hörenden, an die Bereitschaft, Konsequenzen zu ziehen. Schließlich sind Urkunde und Entsprechung und ist durch sie der Hörende, Mitdenkende und Mitgehende je „anagogisch“ orientiert aufs Wohin. Am Ende steht nicht das fixe Ergebnis, sondern Begegnung zwischen Braut und Bräutigam, nicht das Bescheidwissen, sondern der Friede, nicht das Erreichthaben, sondern das Aufgenommenwerden in die Communio des dreifaltigen Gottes. Das Urkundliche gibt dem Sprechen Bonaventuras seine Transparenz aufs Eine hin, das Werben um die Entsprechung seinen Ernst, der Vorblick auf die Vollendung seinen Schwung. Bonaventuras zeithaftes und geschichtliches Denken zeigt eine Alternative an zu einem bloß historisierenden oder bloß dogmati- [173] schen, zu einem bloß „anwendenden“ oder „praxisbezogenen“, zu einem bloß erbaulich-spirituellen oder schwärmerisch-utopischen Stil von Theologie.


  1. Vgl. De perfectione evangelica 2, 1 Conclusio. ↩︎