Weite des Denkens im Glauben – Weite des Glaubens im Denken

Weite des Denkens im Glauben – Weite des Glaubens im Denken

[222] Meine lieben Damen und Herren, ich habe mir überlegt, ob ich es wagen darf, noch so ganz am Anfang meiner Zeit1 in meinem Bistum, das ja auch ein bißchen Arbeit mit sich bringt, einen Vortrag über etwas zu halten, was mir sehr am Herzen liegt, was jedoch nicht zu meinen unmittelbaren Dienstpflichten gehört. Aber vielleicht gehört die Weite des Glaubens im Denken und die Weite des Denkens im Glauben zu den Pflichten des Bischofs, und dann müßte er versuchen, durch das Nachdenken über seinen verehrten Lehrer hier selbst ein Stück weiterzukommen.

Ich habe allerdings auf meine Situation Rücksicht genommen und einer Versuchung widerstanden, die mich sehr viel Zeit gekostet hätte. Sehr gern hätte ich anhand der Schriften von Bernhard Welte dieses Thema ausgefaltet und es auf die gegenseitige Bedingung hin bedacht, die Glaube und seine Weite im Denken und Denken und seine Weite im Glauben bedeuten. Ich habe jedoch einen andern Weg eingeschlagen: Ich gehe zurück auf meine persönliche Erfahrung und meine Begegnung mit Bernhard Welte, auf das, was er mir selbst auf meinem Weg des Denkens und Glaubens bedeutet hat. Ich möchte das Thema nicht in sich abhandeln, sondern fragen: Wo habe ich diese Erfahrung der Weite im Glauben und dieser Weite im Denken von Bern- [223] hard Welte gefunden, und warum war dieses Finden einer doppelten Weite für mich die Ermutigung sowohl zum Philosophieren wie zum Glauben und zum Theologietreiben?

Ich möchte diese Fragen in sieben Stufen erwägen, die einerseits narrativ sind und etwas von ihm und mir berichten, andererseits aber auch Grundzüge aufscheinen lassen, die für mich in der persönlichen Reflexion zu einer Synthese kommen. Ich möchte allerdings noch bemerken, daß es hier nicht nur um sympathische, liebe Erinnerung an Bernhard Welte geht und um eine Hommage an ihn. Ich bin überzeugt, daß wir uns in der Theologie, in der Kirche, in der Gesellschaft und auch in der Philosophie in einem Übergangsstadium befinden, in dem ganz große neue Ansätze im Augenblick nicht sichtbar sind. Ein bloßes Zurückziehen auf das, was war, wäre hier jedoch fatal. Eine Weite des Denkens im Glauben und eine Weite des Glaubens im Denken können vielmehr den Raum eröffnen, in dem wir, ohne sie zu erzwingen und zu konstruieren, der Ursprünge und der neuen Zeichen gewahr werden. Dieses sehr persönliche Unterfangen, jemandem wie Bernhard Welte in seiner Weite zuzuschauen, kann ein Weg sein, um uns für das zu rüsten, was die kommende Stunde von uns oder denen, die nach uns kommen – aber doch nicht ohne uns, denn die Gemeinschaft der Geschlechter gehört dazu –, verlangen wird.


  1. Gemeint ist: der Zeit der Wiederaufnahme der Arbeit nach der Rekonvaleszenz. ↩︎