Wegmarken der Einheit

Welche Bedeutung hat der Wille Gottes für den Menschen von heute?

[74] Die Frage nach dem Sinn des Ganzen, nach dem Sinn des Lebens ist eine jener Menschheitsfragen – wir sahen es bereits –, die heute besonders notvoll und eindringlich überall in der Welt gestellt werden. Auch in der nach der Freiheit, der Frage nach dem Frieden oder der Frage nach der Entwicklung, die in manchen Gegenden vordergründig noch bedrängender erscheinen, geht es um mehr als nur um äußere Veränderung. Immer mehr Menschen, zumal junge Menschen, entdecken dies. Wann kann der Mensch sich wahrhaft frei, wann kann er sich wahrhaft in jenem Gleichgewicht des Friedens, wann kann er sich im vollen und entwickelten Sinn als Mensch fühlen? Gerade in jenen Regionen der Welt, in denen scheinbar die genannten Güter am ehesten gewährleistet sind, tritt eine tiefe innere Krise zutage: Konsum, Genuß, stabile Verhältnisse, schier unbegrenzte Möglichkeiten des Lebens genügen nicht. Das menschliche Herz ist für etwas erschaffen, das tiefer ist und höher, und nur wenn das menschliche Herz dieses Tiefere und Höhere erreicht, findet es Erfüllung.

Vier Richtungen, in denen eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn gegeben wird, erweisen sich als Sackgassen für den Menschen.

Einmal findet der Mensch sich leer und verlassen, wenn er allein, sozusagen als sein eigener Schöpfer und Herr, nur auf sich gestellt, mit seiner eigenen Freiheit, mit seinen eigenen Wünschen und Ideen sich zu verwirklichen strebt. Freiheit, die nur auf sich selber steht, die von nichts anderem als von sich selbst abhängig ist, gerät in Angst vor sich, in Einsamkeit, sie protestiert schließlich gegen sich, gegen das Gefängnis ihrer Isolation.

Eine zweite Lösung trägt nicht: Das Kollektiv beschließt über den Sinn, plant eine Welt, die ein Optimum der materiel- [75] len und kulturellen Güter enthält; alle sind verpflichtet, an der Erstellung dieses Optimum und Maximum mitzuwirken, und befähigt, nach Belieben es zu nutzen. Das System der gemeinsam hergestellten Glückseligkeit aber wird wiederum zum Gefängnis. Leistungsdruck und Konsumzwang, Abhängigkeit aller von den Produktions- und Lebensbedingungen dieser hochdifferenzierten Gesellschaft: das ergibt, für sich allein genommen, einen bloßen Leerlauf, es treibt die Menschen zur Flucht, zur Verweigerung.

Dritter Weg, der nicht genügt: Der Glaube an einen Gott oder an eine anderswie geartete überirdische Macht, die in ihrer Planung und Vorsehung alles genau festgelegt hat – die Welt aber ist sozusagen nur die Maschine, die nach diesem Plan abläuft, in den wir uns eben zu schicken haben. Wille Gottes spielt hier eine Rolle, aber er ist mehr ein fremdes Etwas als ein liebendes Du. Fügung, Gehorsam werden zum bloßen Sich-Abfinden mit dem unabänderlichen Schicksal. Der Mensch in seiner Freiheit ist ausgelöscht, die Freiheit ist bloß jene der Resignation oder der Lebenskunst, die der einzelne ihr allenfalls abzuringen vermag.

Schließlich eine vierte Fehlrichtung: Es gibt einen Gott, der die Welt erschuf und ein paar ethische Prinzipien als seinen Willen verkündet hat. Aber er zieht sich zurück, interessiert sich nicht für den einzelnen, bleibt der ferne Ingenieur des Ganzen. Wiederum ist die Freiheit des Menschen bedroht von tiefer Einsamkeit. Der einzelne und die Gesellschaft werden zum Spielball äußerer Zufälle und der zufällig so oder so handelnden eigenen Freiheit.

Eine befreiende Antwort auf die Frage nach dem Sinn gibt es im Grunde nur, wenn es einen Willen Gottes gibt, der stärker ist als alle Mächte der Geschichte und des Kosmos, einen Willen Gottes, der persönlich ist und konkret, jedem einzelnen zugewendet, ihn begleitend auf jedem Schritt seines Lebens; einen Willen Gottes, der unendlich größer und erha- [76] bener ist als der Wille des Menschen und doch zu ihm spricht, seine freie Antwort sucht. Einen Willen Gottes also, der ein Ja zum Menschen ist und darauf aus ist, daß auch der Wille des Menschen ein Ja zu ihm werde. Freiheit gibt es nicht, wo ich nur machen kann, was ich will. Freiheit gibt es vielmehr dort, wo ich gerufen bin, gemeint, befreit vom bloßen Ich zum unendlichen Du Gottes und von ihm her zu allen Menschen, zur ganzen Welt. Hier darf ich leben mit wachen Sinnen mitten in den Fragen, Nöten und Hoffnungen dieser Welt. Aber dabei weiß ich doch, daß es auf keinem Schritt gleichgültig ist, was ich tue, sondern daß es einen Weg gibt, den ich finden kann; denn es gibt einen Willen, der mich und alles, was geschieht, begleitet, einen allmächtigen, liebenden Willen, den ich hören, mit dem ich in beständigem Gespräch sein kann. Das ist die frohe Botschaft vom Willen Gottes – frohe Botschaft für uns, für unsere Welt, in welcher ungezählte menschliche Willen nicht zu sich selber, nicht zum andern, nicht zum Ganzen durchstoßen. Diesen Willen Gottes für sich persönlich und zugleich mit vielen anderen gemeinsam für diese Welt, für diese Menschheit aufzuspüren: das ist die dringendste Aufgabe der Stunde.