Wegmarken der Einheit

Welches sind die Grunddimensionen des Willens Gottes im Leben Jesu selbst?

[84] Den Willen Gottes zu leben, das erfordert, dorthin zu gehen, wo wir mit ihm kommunizieren können: zu Jesus. Sein Leben will unser Leben werden. Dann gilt es, Jesu Leben mitzuleben, Schritt um Schritt es selbst zu befragen: Wo und wie entdecken wir in ihm den Willen des Vaters? Die Verkündigung Jesu wird im Markusevangelium in die prägnanten Sätze zusammengefaßt: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Jesus ist, wie ein Kirchenvater sagt, das Reich Gottes, die Herrschaft Gottes. Gott will mit uns sein, Gott will das Leben unseres Lebens werden. Dieser Wille wird zum Ereignis, er wird Geschichte in Jesus. Sein Kommen verlangt Umkehr, Entscheidung, Glaube – darin aber offenbart es sich als die Frohe Botschaft schlechthin, als die Befreiung und Erlösung des Menschen. Anders gewendet: Jesus ist das sichtbar werdende, wirksam werdende Erbarmen Gottes. Was Gott für uns will, enthüllt sich in dieser Botschaft, die Jesus bringt und die Jesus ist. Glaubt an die Frohe Botschaft – die Antwort darauf heißt: credidimus caritati – wir haben an die Liebe geglaubt (1 Joh 4,16).

Im selben Atemzug überliefert uns Markus ein Zweites (vgl. Mk 1,16–20): Der Jesus, der Gottes Reich ansagt, beruft Menschen. „Folge mir!“, so heißt der Imperativ Jesu. Hier wird offenbar, was in letzter Konsequenz Gott von uns will. Nur in der Nachfolge Jesu, nur in der Lebensgemeinschaft mit ihm kommt das zum Zuge, was er für uns will, was er uns schenkt, seine Liebe. Wahl Gottes, Entscheidung für Gott, das ist die Voraussetzung, damit der Glaube an die Liebe sich einlöst, Lebensgestalt wird, ja allererst möglich wird. Gott tut den ersten Schritt der Liebe auf uns zu – wir sind nach seinem Bild geschaffen und können seine Liebe nur empfangen und weitertragen, wenn auch wir den Mut haben zum ersten [85] Schritt, zum „Lieben als erste“. Der Glaube an die Liebe und die Wahl Gottes sind der Anfang des Weges mit Jesus, sind der Einstieg in den Willen Gottes, in das, was Gott für uns und von uns will.

Wie kommt man hinein in das Gottesreich? Wie kann die Nachfolge Jesu gelebt werden? Die vielfältigen Wegweisungen Jesu konzentrieren sich im Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Der Wille Gottes wird in mir nur mächtig, wenn ich ihn selber ganz und gar will, und ich will ihn nur ganz und gar, wenn ich mit meinem ganzen Herzen Gott will, Gott liebe. Wenn ich aber Gott liebe, dann liebe ich, was Gott liebt, dann liebe ich meinen Nächsten. Ich bin persönlich von Gott geliebt, aber diese persönliche Zuwendung zu mir ist keine andere als jene Zuwendung, die ebenso jedem Nächsten persönlich gilt. Wir sind alle in der einen Liebe geliebt, die uns zum je einmaligen Personsein, zur Würde unserer selbst erhebt und zugleich uns unlöslich miteinander verbindet und aneinander verweist. Im Liebesgebot kommunizieren wir mit der doppelten Blickrichtung Jesu: Er ist zum Vater hin orientiert, liebt ihn mit seinem ganzen Sein – und ist ganz vom Vater her, als der von ihm Gesendete, Hingegebene, als Ausdruck und Vollzug seiner Liebe und seines Erbarmens zu uns. Das Liebesgebot konzentriert sich noch einmal: Es wird zum Neuen Gebot (vgl. Joh 13,34f). Es ist das Gebot, einander zu lieben, Liebe zur je persönlichen und so gerade zur gemeinsamen Lebensform werden zu lassen. Und es ist das Gebot, so zu lieben, wie er geliebt hat, also bis zum letzten, bis zum Tod zu lieben. Hier wird in der äußersten Radikalität sein Wille unser Wille, nicht im Sinne einer unser Sein auslöschenden Verschmelzung, sondern jener communio, die uns zu uns selbst befreit, indem sie uns hineinnimmt in Jesus.

Drehen wir die Richtung unseres Hinblicks. Betrachten wir in Jesus den Willen Gottes einmal nicht, sofern er Wille für uns ist, sondern Wille in ihm und für ihn. Die Einheit des göttli- [86] chen und menschlichen Willens in Jesus ist unzerreißbar. Aber der menschliche Wille wirkt als menschlicher in dieser Einheit. Zum menschlichen Willen gehört einerseits die Unendlichkeit und Unbedingtheit der ratio boni, des unauslöschlichen Interesses am schlechthin Guten: Jedes endliche Gute wird unter der Rücksicht des absoluten Guten ergriffen, in jedem endlichen Ja oder Nein legt sich das fundamentale Ja zum Guten schlechthin aus. Aber zum menschlichen Willen gehört anderseits ebenso die Endlichkeit. Nur in einer endlichen Perspektive, in einem endlichen Akt kann er das absolute Gute erwählen. Ich sage jetzt, in diesem einen Augenblick ja zu Gott, selbst wenn ich meiner Intention nach dieses Ja ganz und für immer spreche. Das „ganz und für immer“ gesagte Ja muß sich einlösen in der Treue, in der Beharrlichkeit. Es muß sich übersetzen in die je anderen Bedingungen der anderen Augenblicke meiner Zeit. Und ich selbst bin je abhängig von den sich ändernden Bedingungen, unter denen ich als endlicher Mensch meinen Willen, meine unendliche Freiheit zu realisieren habe. Meine Freiheit ist je größer als die Abhängigkeit von Erkenntnis, Stimmungen und Umständen – aber diese gehen doch in meine Entscheidungen mit ein.

Diese Bemerkungen sind in unserem Zusammenhang deshalb von Bedeutung, weil in der bleibenden vollkommenen Einheit des menschlichen Willens mit dem göttlichen Willen in Jesus eine Geschichte seiner Freiheit spielt. Derselbe Jesus kann mit der Freude des Herzens, mit dem Brennen seines Verlangens den Willen des Vaters umarmen und in der Dürre und Not des äußersten, gegen Stimmung und Mögen gehenden Gehorsams sich ihm ausliefern. Aufs erste mag es erscheinen, als sei die mühelose, allen Unterschied zwischen göttlichem und menschlichem Willen überspielende Freude des Ja die vollkommenste Erscheinung des göttlichen Willens im menschlichen Willen Jesu. In einer tieferen Sicht geht aber der nackte Gehorsam am Ölberg und in der Verlassenheit auf [87] Golgota als die unüberbietbare, umfassende Epiphanie des Willens Gottes überhaupt auf. Der menschliche Wille Jesu hat hier keinen anderen Grund und kein anderes Motiv mehr, das absolute Ja des Sohnes zum Vater mitzuvollziehen, als allein die Liebe zum Vater. Nirgendwo will der Mensch so sehr Gott ohne Vorbehalt nur um seiner selbst willen als dort, wo Jesus sich gegen seine menschliche Erfahrung und sein menschliches Erleben als der Zitternde und Verlassene dem Vater anheimgibt. Hier ist im Menschen alles Menschliche als Motiv und Kraft weggenommen und allein der Wille des Vaters selber präsent – und gerade dies ist die höchste Form des menschlichen Willens. Seine Freiheit vollendet sich darin, Gott nur noch um Gottes willen und aus Gott her zu bejahen. Die Gottverlassenheit Jesu am Kreuz ist jener Gipfel, auf dem der Wille Gottes und der Wille des Menschen in Jesus in ihrer höchsten Dichte und Reinheit aufgehen.

Und zugleich – wir bemerkten es bereits in anderem Zusammenhang – ist alles menschliche Wollen hier gegenwärtig, hier hineingenommen durch das menschliche Wollen Jesu in den Willen Gottes. Denn in der Erfahrung der Fremdheit und unbegreiflichen Übermacht des Willens Gottes und in der Erfahrung der Ferne Gottes, der Verlassenheit von Gott ist die Distanz des menschlichen Willens, der sich von Gott abgewendet hat, zu Gott offenbar. Hier wird sie durch Jesus hineingetragen in Gott selbst. Die abgründigste Erfahrung der Gottesferne des von Gott entfremdeten Willens wird zu einer – kraft seines menschlichen Willens – vom Sohn Gottes selbst geteilten Erfahrung, zu einer Erfahrung Gottes, zu einer Erfahrung, die Gott macht. Die unendliche Liebe des Sohnes zum Vater wird menschlich offenbar. Die Schrecklichkeit der menschlichen Gottesferne wird offenbar, aber als von Gott angenommene zugleich überwunden. Und schließlich wird die Liebe Gottes zum Menschen offenbar, der diesen auch in seiner äußersten Entfremdung von ihm an sich zieht, einholt, in sich [88] hineinnimmt. Ja sagen zum Willen Gottes, zu jener Liebe, die Gott für uns hat, aber auch zu jener Liebe, die er von uns erwartet, heißt in der kürzesten und dichtesten Formel: ja sagen zu Jesus in seinem Kreuzesgehorsam, in seiner Verlassenheit am Kreuz.

Die Geschichte des Willens Gottes im menschlichen Willen Jesu ist aber mit Kreuz und Tod nicht zu Ende. Der auferstandene Herr ist in der Mitte derer, die in seinem Namen versammelt sind, gegenwärtig. Nicht nur von sich her, durch sein uns zuvorkommendes Wirken geschieht die Gegenwart seines Willens für uns – wir sprachen schon von Eucharistie, Wort, amtlicher Sendung, Repräsentanz Jesu durch den Bruder und Gegenwart Jesu in unserem Inneren durch seinen Geist. Er ist auch – dies haben wir ebenfalls bereits berührt – gegenwärtig von uns her: dort eben, wo wir so miteinander und mit ihm eins sind, daß er in unserer Mitte zu sein vermag (vgl. Mt 18,20). Es ist in diesem Kontext wichtig, auf die Verheißung der Gegenwart Jesu in unserer Mitte noch genauer zu achten. Die (vorösterlich situierte, aber auf das Leben der Jünger nach Ostern zielende) Rede Jesu über die Gemeinde im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums bringt die Verheißung seiner Gegenwart unter den Seinen in einen bedenkenswerten Zusammenhang: in den des gemeinsamen Gebets, das einmütig den Vater um etwas bittet (vgl. Mt 18,19). Hier sind Glaubende völlig einig in ihrem Willen, sie wollen schlechterdings und ohne Vorbehalte dasselbe, und sie wollen es im Namen Jesu, wollen es, weil sie ihren Willen nahtlos in den Willen Jesu hineingegeben haben. Und sie werden es mit untrüglicher Sicherheit erhalten; denn der erhöhte Herr selber ist mit uns einig, wo wir gemeinsam mit seinem Willen und so mit dem des Mitbittenden einig sind. Und Jesu Wille ist mit dem Willen des Vaters einig, so daß wir dessen gewiß sein dürfen: Der Vater wird das geben, worum wir in Jesu Namen bitten. Die Einheit zwischen dem Willen des Vaters und des Sohnes ist im Spiel, wo wir [89] miteinander im Willen Jesu eins sind. Und hier ist Jesus selbst gegenwärtig zwischen uns – in seinem Geist, den wir in allen Gaben und über alle Gaben hinaus empfangen.

Eine weitere Station in diesem Mitspiel des Menschen mit dem Willen Gottes bleibt zu bedenken. Jesus zieht nicht nur den einzelnen hinein in seine Einheit mit dem Vater, nicht nur der Wille des einzelnen soll sich umgestalten, bis in ihm der Wille Jesu lebt und Gestalt wird; vielmehr soll auch die Gemeinschaft derer, die an Jesus glauben, als solche gleichförmig werden mit seinem Willen. Die Kirche selbst soll für die Kirche der anschaubare, gelebte und lebendige Wille Gottes sein. Am Bild des Apostels Paulus vom Leib Christi läßt sich dies verdeutlichen. Indem der eine Geist aus vielen Gliedern einen Leib formt, so daß sie Christus „sind“, kann der Wille Christi selber sich der Glieder seiner Kirche bedienen (vgl. bes. 1 Kor 12; Röm 12; Eph 4). Er führt sie und hat sie in der Hand – und doch ist dies nicht Verringerung ihrer eigenen Freiheit, sondern ihre Erfüllung. Das Bild vom Leib, das die innigste Einheit der Glieder mit dem Haupt und seinem Willen und zugleich die gegenseitige Einheit der Glieder ausdrückt, ist zu ergänzen durch das Bild von der Braut, in dem diese innigste Einheit als personales Verhältnis, als Zusammenklang des Willens der Braut mit dem Willen des Bräutigams verdeutlicht wird. Leib Christi und Braut Christi – diese Bilder holen kirchentheologisch das ein, was die ungetrennte, aber auch unvermischte Einheit göttlichen und menschlichen Willens im menschgewordenen Logos sagt.

In der Apostelgeschichte werden die zwei Dimensionen des Vollzugs solcher Einheit des Willens der Kirche mit dem Willen ihres Hauptes deutlich: Dieser Wille ist vorgegeben, ist Erbe, ist unveräußerlich weiterzugebende Botschaft – alles hängt ab von der Sendung des Anfangs und von der Treue zu ihr. Aber – dies ist die zweite Dimension – derselbe Geist, in dem diese Treue zum Ursprung bewahrt wird, macht alles je [90] neu; er läßt in jeder Situation ertasten und erspüren, wie der Weg weiterführt. Man erinnere sich etwa der Wahl des Matthias (vgl. Apg 1,15-26), der Bestimmung der sieben Diakone (6,1–7), der Taufe des Cornelius (10,23–48), des Weges, den Paulus nach Europa einschlägt (16,6–10). Wille Gottes wird offenbar im Geist als der immer selbe und immer neue Wille, der in der ständigen Ausrichtung des Willens der Kirche am Willen des in ihr gegenwärtigen, erhöhten Herrn zur treibenden Kraft der Kirchengeschichte wird. In ihr ist von Jesus selber her sein Wille stärker als der unsere. Seine Treue zur Kirche bringt dies zum Durchbruch im Beistand des Geistes für die Verkündigung des Glaubens und die Leitung der Kirche und in der Wirksamkeit der Sakramente aus sich her. Zugleich aber gibt sich dieser Wille unserem Willen anheim, es hängt von unserer Sensibilität für den Willen Gottes und von unserer Treue zu ihm ab, wie er Geschichte macht in der Geschichte, wie hell das Licht strahlt, das uns gegeben ist und das wir sind.

Gegenwart des Willens Gottes durch den erhöhten Herrn in seinem Geist – dieses Geheimnis der Kirche erfährt noch eine letzte Verdichtung. Wenn wir ganz in Jesus sind, wenn unser Wille ganz eintritt in den seinen, wie Jesus und sein Wille ganz drinnen sind im Willen des Vaters, dann wird die Einheit zwischen dem Vater und dem Sohn im Heiligen Geist Maß, Modell und Kraft unserer Einheit miteinander. Jeder wird Wort des anderen und Antwort auf den anderen, jeder ganz frei, indem er ganz sich verschenkt an den anderen und sich vom anderen mit sich selbst beschenken läßt. Dreifaltiges Leben, Leben Gottes wird zur Lebensart der Kirche. Das menschliche Grundproblem, daß jeder selbst sein will und doch nicht allein, daß Freiheit Einheit braucht und Einheit Freiheit, findet seine Lösung in jener Gesellschaft, die menschlich und göttlich ist und die so lebt, daß das Göttliche das Menschliche in ihr vollenden und für sich transparent [91] machen kann. Nirgendwo wird der Wille Gottes in dieser Welt, nirgendwo wird das Leben Gottes so göttlich und so menschlich sichtbar wie dort, wo Menschen sich verzehren lassen zu jenem Einssein, das der Herr im Hohenpriesterlichen Gebet für die Seinen, für alle erbeten hat: „Laß alle eins sein, wie du Vater in mir und ich in dir …“ (vgl. Joh 17,21–23).

Wir verstehen hier auch die zwei Lesarten derselben Wirklichkeit: einmal Jesus in der Mitte – die vielen Willen, die miteinander eins sind, indem sie eins sind mit dem Willen Jesu, werden der Raum seiner Gegenwart; zum andern Einheit, wie der Vater und der Sohn eins sind – im Leben mit Jesus in der Mitte wird das dreifaltige Leben zum Modell des menschlichen Lebens miteinander. Die Geschichte des Willens Gottes führt von dem, was am Anfang war, von der absoluten Einheit des Sohnes mit dem Vater im Geist vor aller Schöpfung hin zu jenem Ende, an welchem diese Einheit gegenwärtig wird in der Einheit zwischen denen, die dem Sohn Gottes glauben und ihn in sich und zwischen sich leben lassen.