Das Wort für uns
Welt als Zeit-Raum
Das Heimliche und Unheimliche an der Welt, ihre bergende Übersichtlichkeit und ihre je neu herausfordernde und bedrohende Andersartigkeit, Welt eben als Heimat und Fremde – dies verweist uns darauf, daß der Welt innerstes Geheimnis nicht der Raum ist, sondern die Zeit. Nur als Zeitraum ist die Welt dem Menschen gegeben, aber: gegeben und entzogen.
[126] Der Mensch erfährt seine Macht und Ohnmacht nirgendwo tiefer als in seiner Zeitlichkeit. Er muß Zeit planen, muß über das Jetzt hinausschauen in die Zukunft, kann sich einrichten auf das, was sie ihm bringt oder entzieht – doch daß diese Zukunft kommt, daß sie stattfindet, vermag er nicht. Er ist nur Herr der Zeit, indem er sich die Zeit geben läßt, Augenblick für Augenblick, in Rhythmus und Maß, die nicht er bestimmen kann, sondern die ihn bestimmen. Zeit läßt sich nicht festhalten, Zeit geht und kommt, und indem sie geht und kommt, geht und kommt der Mensch. Er kann alle Raffinessen der Vorsorge, der Erkundung und Bewältigung des Möglichen ausbilden, die Angewiesenheit auf den je entzogenen und nur von sich her kommenden nächsten Augenblick bleibt das unauslöschliche Stigma seiner Endlichkeit.
Gewiß, es gibt nicht nur viele Weltbilder als Bilder vom Weltraum, als Deutungen, Anschauungen der Welt in ihrer Geräumigkeit, sondern – wenn auch leiser, unauffälliger – ebenso viele Zeiterfahrungen, Zeitorientierungen in den Grammatiken der Menschheit und dem, was sie an menschlicher Grunderfahrung und Grund- [127]deutung des Seins anzeigen. Doch wie auch immer, die Herrschaft des Menschen über die Zeit, seine Übersicht über dies Jeweilige hinaus in Gedächtnis und Planung kontrastieren je dem anderen, noch Schwererwiegenden: der Ohnmacht gegenüber der Zeit, der Angewiesenheit auf die Zeit, auf ihre unverfügbare Gabe.
Zudem, Gabe ist auch Gericht. Zeit läßt sich nicht auslöschen. Jeder Augenblick, noch so flüchtig, trägt sein Einmal ein ins Für-Immer.
Die Weltgeschichte wird so zum Jakobskampf zwischen dem Menschen und dem Engel Zeit. Der Mensch ringt der Zeit je neu den nächsten Augenblick ab – doch daß dieser Augenblick sich abringen läßt, ist das je neu Wunderbare, Unselbstverständliche. Die Sehnsucht des Menschen läuft darauf hinaus, endlich einmal dort zu sein, wo der Vorrat an Zeit nicht versiegt, wo das Dann und Nachher nicht unter dem Verschluß einer unlösbaren Fraglichkeit gehalten wird. Er möchte die Quelle der Zeit, aus welcher je neu sein eigenes Leben springt, herüberholen ins Gelände seines eigenen Verfügens und Vermögens, seiner Sicherheit. Dies aber gelingt ihm nie.