Theologie als Nachfolge
Weltflucht und Weltzuwendung
Mit demselben Recht kann man Bonaventuras Theologie als Weg der Lösung von der Welt, als Methode des Überstiegs über die Welt, als reflektierte „Weltverachtung“ und kann man sie als aus dem Glauben reflektierte Weltzuwendung, als denkende Integration von Schöpfung bezeichnen. Beides hängt eng miteinander zusammen: Welt wird vom Punkt ihrer Einheit her allein zur Welt, hört von diesem Punkt ihrer Einheit her allein auf, eine Ansammlung unlesbarer Chiffren zu sein, ein Gewirr von Silben, das sich nicht zum Wort fügt. Diesen Punkt der Einheit findet Bonaventura aber gerade nicht in der Welt, sondern in dem, was ihr als ihr Äußerstes und Innerstes kontrastiert: in der ewigen Weisheit, in der Uridee des Logos, der sie in Gott ermöglicht und eröffnet, in der von Gott allein zu wirkenden Verwandlung und Vollendung, in der Dimensionierung und Orientierung des Ganzen vom Tiefpunkt des Kreuzes. So ist es kein Widerspruch, daß Bonaventuras Schrift über die Welt, das Itinerarium, ein Buch ist, das seinen Anfang von der Anrufung des Gekreuzigten nimmt und sein Ziel gerade nur durch die Gleichgestaltung mit ihm, durch den Eingang in seinen Lebens- und Sterbensvollzug erreicht. Freilich interessiert sich Bonaventura nicht nur um der Welt willen für Gott und sein Handeln, er liest nicht nur vom ewigen Logos her, vom Frieden der Vollendung her, vom Kreuz her die Welt – beinahe noch wichtiger ist ihm das Umgekehrte: von der Welt her Gott lesen zu lernen, Welt lesen zu lernen als Weg zu [101] Gott, als Buch von Gott, als Wort, das nicht nur sich, sondern zuerst und zuletzt ihn sagt. Beides hängt konsequenterweise bei Bonaventura zusammen, ja man kann sagen: es fällt zusammen. Seine Logik ist als Logik der Liebe Logik des Aufeinanderzu, der Gegenseitigkeit und Gegenwendigkeit, und nur in solcher Gegenseitigkeit und Gegenwendigkeit integriert sich das Verhältnis zwischen Gott und der Welt und somit das Bild Gottes in der Welt. Gerade solche Gegenwendigkeit aber ist Ursprung der Dramatik, in welcher das Hinweg von der Welt und Hinein in die Welt miteinander verspannt sind. Das Hinein in die Welt erfordert die Distanz zu ihr: „Wenn zur Erkenntnis der Kreatur nur zu gelangen ist durch das, wodurch sie geschaffen wurde, dann ist es notwendig, daß das wahrhafte Wort dir vorausgehe (Sir 37, 20).“1 Nur der Abstoß von der Unmittelbarkeit zur Welt deckt ihre Aussage auf. Zwar ist die allgestaltige Weisheit Gottes „ausgegossen in jedes Ding; denn jedes Ding hat gemäß seiner jeweiligen Besonderheit sein Weisheitsmaß und zeigt die göttliche Weisheit; und wer alle Besonderheiten wüßte, der sähe diese Weisheit selbst offenliegend“.2 Und doch folgert Bonaventura, im Blick auf die Erfahrung Salomos, der die Weisheit im Maße seines Zugriffs fernerücken sah: „Wenn nämlich einer durch neugieriges Durchforschen der Kreaturen sich daran gibt, diese Weisheit aufspüren zu wollen, dann weicht sie weiter zurück.“3 Nur der Gelassenheit, die sich nicht auf die Dinge fixiert, sondern zu ihrem Urgrund und Ziel hinblickt, lassen sich die Dinge. Allerdings fällt gerade das dem Menschen schwer; denn durch seine Wegwendung vom Schöpfer in der Sünde ist er ein gekrümmtes Wesen, das den Blick nicht mehr erheben kann.4 Nur Jesus Christus richtet den Menschen wieder auf, so daß er die Welt so sehen kann, wie sie ist. Nur er gibt jenes Licht, durch welches das entstellte Buch der Schöpfung wieder verständlich und lesbar wird.5 So kann die Integration der Welt nur durch das Werk Christi und die Nachfolge Christi erschlossen werden. Anders gewendet: Das Buch der Schöpfung, in dem Gottes Weisheit offenliegt, ist für uns „griechisch, barbarisch und hebräisch und gänzlich unverständlich in seinem Ursprung geworden“, wir finden uns vor ihm „wie ein [102] Laie, der nicht lesen kann, ein Buch in der Hand hält und nichts damit anzufangen weiß“.6 Darum aber bedarf es eines zweiten Buches, das dieses erste wieder lesbar macht, das dieses erste restituiert und integriert, nachdem das erste unserem Auge wie ausgelöscht und entzogen ist; und dieses zweite Buch ist das des unmittelbar an uns gerichteten Wortes in der Schrift. Durch sie kommt die Schöpfung wieder zum Leuchten, durch sie wird die in ihr verborgene Weisheit wieder lesbar auf Gott hin.7
Genauso wie das Hinweg von der Welt die Bedingung der Zuwendung zur Welt wird – grundsätzlich, weil nur von Gott her die Dinge sind, wie sie sind, und konkret, weil der gefallene Mensch nur durch die Vermittlung Christi, der Gnade und der Schrift die Tiefe der Schöpfung ermessen kann –, ist glaubende Zuwendung zur Welt, christliches Hinein in die Welt Weg über sie hinaus, Weg, um Gott zu finden. Gerade das aber ist der Prozeß, den Bonaventura in seinem Itinerarium durchschreitet und der die Integration der Welt und die Kreuzesnachfolge in eins verschmilzt. Ein heute sich aufdrängender Einwand: Wird Welt so nicht nur instrumentalisiert, wird Welt nicht bloße Durchgangsstation, werden die Dinge nicht abgewertet, wenn sie nur noch auf Anderes weisen und keinen Stand und Wert mehr in sich selber haben? Bonaventuras Denken reicht wiederum weiter: Gewiß, die Dinge sind Stufen, die Welt ist Durchgang; aber nicht nur durch die Welt und die Dinge, sondern in der Welt und den Dingen ist Gott auf je spezifische Weise zu finden. Jeder Punkt im Bild Gottes, das die Welt ist, ist Punkt auf einer Linie, die weiterführt, und doch Punkt, der gerade hier und gerade so „Endpunkt“ ist, der in die Gestalt des Bildes selbst unersetzlich hineingehört. Die Weisheit Gottes ist nicht nur eingestaltig in den zwingenden Regeln, die allem Denken seine Eindeutigkeit verleihen, und nicht nur vielgestaltig in den vielfachen Ausdrucks- und Verstehensweisen der Schrift, sie ist auch allgestaltig „in den Spuren der göttlichen Werke“, in der Schöpfung.8 Gerade in der Besonderheit eines jeden Dings leuchtet sie auf, gerade das je Einmalige einer jeden Stelle im Gesamt der Schöpfung ist je einmaliges Zeugnis von ihm.9 Eine Theologie der Schöpfung ist im Sinne Bonaventuras [103] notwendig transitiv und intransitiv, aufs je Eigene sehend und je weiter als bis zum nur Eigenen sehend. Welt ist Bild und Wegweiser zugleich, wir könnten sagen: sie ist Sakrament, das an sich selbst Zeichen und doch Gegenwart dessen ist, was das Zeichen aus sich nicht vermag.