Politik und Zeugnis

Wer ist ein Zeuge? Was ist ein Zeugnis?

Es gibt heute eine neue Weise, die Worte Zeuge und Zeugnis aufzugreifen, die sich von deren streng juristischem, streng historischem, streng biblischem [316] Gebrauch deutlich abhebt, wobei Verbindung zu den genannten Feldern durchaus besteht.

Als kürzlich in einer Versammlung, die ich besuchte, jemand aufstand und seine Erfahrung vom Umbruch der Verhältnisse im Osten unseres Vaterlandes darstellte, sagten Anwesende spontan: „Das war ein Zeugnis!“ Was nun ist das „Unterscheidende“ der Rede oder des Verhaltens, die in diesem Sinne Zeuge und Zeugnis qualifizieren, von anderem Reden und Verhalten? Dieselbe Frage stellt sich, wenn Paul VI. in seinem 1975 veröffentlichten Apostolischen Schreiben „Evangelii nuntiandi“ sagt: „Der heutige Mensch hört lieber auf Zeugen als auf Lehrer, und wenn er auf Lehrer hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind.“1 Wo liegt der Unterschied zwischen dem „Lehrer“ („magister“) und dem „Zeugen“ („testis“)?2

Das soeben erwähnte Apostolische Schreiben „Evangelii nuntiandi“ von Paul VI. ist insgesamt jenes Dokument zumindest in der katholischen Theologie und im lehramtlichen Sprechen, das in Rückbindung an das II. Vaticanum de facto den neuen Zeugen- und Zeugnisbegriff ins Nachdenken über den Glauben und den Zusammenhang von Glauben und Leben einbringt.

Wir können von einem – etwas holzschnittartig gezeichneten – Verständnis des Boten und der Botschaft (im Kontext der biblischen Worte „euangelion“ „euangelizesthai“, Frohbotschaft und Frohbotschaft bringen) aus erschließen, worum es bei diesem Zeugenbegriff geht.

Im antiken Verständnis, welches auch das biblische mit einschließt, ja dort in gewisser Weise seine Spitze erreicht, gehören Ereignis, Bote und Botschaft unmittelbar zusammen, sie konstituieren das Ereignis als solches. Das Ereignis „ist“ dies: zu geschehen, sich mitzuteilen und Menschen in Anspruch zu nehmen, damit sie die Botschaft weitertragen.

Wie, philosophisch ausgedrückt, das Seiende es zu eigen hat, sich durch sein Sein selbst ins Erscheinen zu bringen, so das Ereignis, sich mitzuteilen, andere einzubegreifen und zu bestimmen. Die Gemeinde derer, welche die Botschaft, das Zeugnis empfangen, ist in eine „Gleichzeitigkeit“ mit dem ursprünglichen Ereignis gesetzt, ist Gemeinde des Ereignisses selbst. Traditio, Weitergabe gehört zur inneren Qualität eines Ereignisses.

Die Erzählkultur der Völker rührt von solcher elementaren Einsicht her. Geschehen zeigt an sich selber an, daß es im Grunde Weltgeschehen ist. Geschichte wird, im Ansatz, zu universaler Partnerschaft am Geschehenen.

Die Verschattung und Verkümmerung dieser Sicht im allgemeinen Bewußtsein ist gewiß eine Verarmung. Die Medialisierung der Überbringungsvorgänge vervielfacht das, was mitgeteilt werden kann. So aber wird leicht das existentielle Verhältnis zu ihm neutralisiert, die material immer weiterreichende [317] und in gewissem Sinne „exakter“ werdende Teilhabe des einzelnen am Gesamtgeschehen wird „verdünnt“.

In diese Situation trifft der „neue“ Zeugenbegriff kontrapunktisch hinein. Zeugnis ist eine Weise von Mitteilung, die durch ihre Qualität in sich Unmittelbarkeit der Beziehung zum Ereignis, Anwesenheit des Ereignisses im Bezeugenden, Direktheit der Beziehung des Hörenden zu dem, was bezeugt wird, stiftet. Der Zeuge kann für das einstehen, was er vermittelt, es ist seine eigene Sache und wird als diese sichtbar und hörbar in seinem Sein und Sprechen.

Es gibt im biblischen Befund selbst Hinweise auf dieses Verständnis von Zeugenschaft und Zeugnis. Wir greifen nur den einen heraus: „Zeuge“ heißt im biblischen Griechisch „martys“, „Zeugnis“ heißt „martyrion“. Daß Märtyrer und Martyrium in unserem Sprachgebrauch Blutzeugenschaft meinen, ist spätjüdisch und zumal christlich grundgelegt. Das, wofür der Zeuge steht, ist stärker als er und größer als er – das wird gerade offenbar in der Hingabe seines Lebens für das zu Bezeugende.

Von diesem extremen Falle her läßt sich allgemeiner entfalten, was Zeuge – und entsprechend Zeugnis – in diesem uns hier interessierenden „neuen“ Sinn meint. Zeuge ist, so verstanden, jemand, der mit seiner Existenz für eine Wirklichkeit, eine Erfahrung, ein Erleben einsteht, die seiner Überzeugung nach zur Mitteilung drängen. Sie mitzuteilen, andere an ihnen teilhaben zu lassen, ist dem Zeugen seinen ganzen Einsatz wert. Er bringt sich ganz ins Spiel, um das zu Bezeugende „überzubringen“. Sich ins Spiel bringen bedeutet hier aber zugleich, sich zurückstellen hinter die zu bezeugende Sache, sich selbst nicht wichtig nehmen, selbst zum „Verschwinden“, zum Opfer bereit sein. Gerade diese Zweitrangigkeit des Zeugen für sich selbst ist der Rang seiner Zeugenschaft, sein „Kleinsein“ vor dem zu Bezeugenden ist seine Größe.

Dabei sind Selbstbescheidung, Selbstverzicht, Bereitschaft zu Einsatz und Opfer allerdings keine absoluten Kriterien. Das Zeugnis muß in sich außer dieser Beglaubigung durch das Verhalten, in dem der Zeuge Zeugnis gibt, beglaubigt werden durch die Weise, wie das Zeugnis selbst ergeht. Der Leidenschaft muß jene Gelassenheit entsprechen, in welcher deutlich wird: es handelt sich nicht um einen Fanatismus, der „Übersteigerung nach unten“, Selbstverbissenheit und Selbstüberschätzung im Gestus der Selbstverachtung und Selbstrelativierung darstellt. Die Sache selbst muß aufscheinen, um die es da geht. Die immanente Qualität des Wortes oder auch des schweigenden Verhaltens – gerade auf dieses letztere hebt „Evangelii nuntiandi“ ab – muß transparent sein für die Qualität des Bezeugten, für seinen inneren Rang und seine unverwechselbare Qualität. Konsonanz zwischen der Glaubwürdigkeit und Plausibilität des Zeugnisses in Form und Inhalt tut not, wobei oft gerade die „Armut“ und „Einfachheit“ des Zeugnisses Gewähr bieten, daß das Bezeugte anschaubar wird.3

[318] Es sei nochmals betont: Zwar ist dieser Begriff von Zeugnis konkret gewonnen am biblischen Zeugenbegriff; in dem, was er aber von menschlichem Dasein überhaupt sehen läßt, reicht er über die Zone des theologisch Relevanten hinaus und bezeichnet die Weise, für Werte und Wahrheiten einzustehen, die personaler Vermittlung bedürfen, um angenommen und verwirklicht zu werden. Dies schließt zwar die besondere Zeugnispflicht des Christen, der von seinem Glauben überzeugt ist und ihn ernst nimmt, auch in den Feldern gesellschaftlichen Lebens ein; doch „braucht“ die Gesellschaft im Grunde in allen, die sie tragen und prägen, „mehr die Zeugen als die Lehrer“ oder besser: sie braucht Zeugen und braucht Lehrer, die Zeugen sind.


  1. Paul VI., Evangelii nuntiandi (EN) 41. ↩︎

  2. Zur Phänomenologie des Zeugen und Zeugnisses, die den Hintergrund solchen Sprechens mit konstituiert, vgl. Hemmerle, Klaus: Wahrheit und Zeugnis, in: Casper, Berndhard/Hemmerle, Klaus/Hünermann, Peter: Theologie als Wissenschaft (Quaestiones disputatae 45), Freiburg i. Br. 1970, 54–72. ↩︎

  3. Vgl. dazu die Ausführungen in EN 21. ↩︎