Wert und Wirkungen der Religion
Wertevermittlung im Alten Testament
Wenden wir uns nochmals der biblischen Religion zu, setzen wir ein beim anfänglich bereits anvisierten alttestamentlichen Gottesbild. Der Gott Israels ist nicht nur der Gott, der sich eines bestimmten Volkes annimmt und alle Orts- und Interessengebundenheit machtvoll überschreitet, sondern er ist zugleich auch jener Gott des Himmels und der Erde, der Gott des Universums, der sich als Herr der ganzen Geschichte offenbart. In der inneren Logik dieses Gottesbildes liegt, was zumal in der prophetischen Verkündigung, aber auch bereits im innersten Anfang in der Konstitution der Religion Israels (vgl. Ex 19: Verheißung des Bundes am Berg Sinai) zum Vorschein kommt: Der Gott des einen Volkes ist Gott für die Menschheit; er macht sich einem Volk vertraut, nicht um sich auf dieses Volk zu beschränken, sondern um es Zeichen für die Völker, Weg zu den Völkern sein zu lassen.
Die Manifestation dieses Willens Gottes ist das Bundesgesetz, die Zehn Gebote (vgl. Ex 20,2–17; Dtn 5, 6–21), die sich in zwei Teile, die zwei Tafeln aufteilen.
„Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“ (Ex 20,2). Am Anfang steht der Indikativ der Selbstaussage Gottes und kein Imperativ, keine fundamentale Handlungsanweisung.
Die erste Tafel: Ich allein bin dein Gott.
Ich bin, der ich bin – auch wenn du dir deine eigenen Götter machst und meinen Namen mißbrauchst.
Ich habe dir deine Zeit geschenkt – habe Zeit für mich.
Die zweite Tafel: Ich habe die Geschichte in die Hand genommen, du stehst in einer Reihe mit anderen Generationen – wehe dir, wenn du deine Eltern oder deine Kinder nicht achtest.
Ich habe dir das Leben geschenkt und bin der Herr deines Lebens – wehe dir, wenn du das Leben eines anderen antastest.
Ich bin es, der dir treu ist – wehe dir, wenn du die Treue nicht hältst in deiner Familie, in deiner Ehe.
[48] Ich bin es, von dem allein du das hast, wovon du leben kannst – wehe dir, wenn du den anderen bestiehlst und nicht auf mich, der dir und ihm gibt, in Treue und Redlichkeit vertraust.
Ich bin es, auf dessen Wort du dich verlassen kannst – wehe dir, wenn dein Nächster sich nicht auf dein Wort verlassen kann.
Ich bin es, der dich sucht und nichts anderes – wehe dir, wenn deine Gier dich treibt zur Frau und zum Gut deines Nächsten.
Die Zehn Gebote markieren ein für die Wertefrage fundamentales Geschehen: Gott als der oberste Wert wird in das Leben des Volkes hineingenommen. Die Gestalt dieser Hineinnahme ist das konkrete Verhältnis des Menschen zu Gott, das wiederum im Verhältnis Gottes zum Menschen gründet. Die Gegenseitigkeit dieser Beziehung schließt notwendigerweise die Gegenseitigkeit des Verhältnisses der Menschen untereinander ein. So wie ich will, daß Gott mit mir ist, so muß ich mit dir sein, dessen Leben vom selben Gott gehütet und geschützt wird. In diesem Gleichgewicht zwischen uns und Gott und zwischen Gott und uns, das sich bewährt im Gleichgewicht des Verhältnisses zwischen uns, ist jener Punkt erreicht, an dem eine neue Konstellation in der Wertefrage aufbricht.
Die Zehn Gebote weisen einem universalen Verhalten die Richtung: Es geht hier nicht nur um ein partielles, auf ein Volk begrenztes, sondern um ein menschheitliches Verhalten; es geht letztlich um das Wissen darum, daß du in mir, ich in dir bin; wir stehen vor demselben Gott, der auch jene meint, die ihn nicht kennen. Gottes Interesse am Menschsein ist universal.
Und dieses Interesse Gottes an allem Menschsein prägt gerade auch das Verhältnis zum Leben des Schwachen und Kleinen, der mit seiner geringen Kraft in der Ungleichheit zu anderen steht: Auch sein Menschsein gilt unendlich – nicht weil das Leben der Güter höchstes ist, sondern weil es das Leben dessen ist, der von Gott das Dasein empfangen hat. Nur im Wahren der fundamentalen Gleichheit der Menschen untereinander, die im Gleichsein vor Gott ihren Grund hat, kann eine Ethik der Menschlichkeit bestehen. Damit ist keineswegs gemeint, nur die, welche glauben, hätten allein an dieser Ethik der Menschlichkeit teil. Aber die letzte und radikalste Sicherung der Kleinen und Schwachen liegt darin, daß das Sein unverfügbar gegeben ist und daß in diesem Gegebensein der Mensch in der Verantwortung vor dem lebendigen Gott steht.
Die Religion als Bundesreligion hat also zwei Dimensionen (vgl. auch [49] Mi 6: Die Treue zum Nächsten wird noch vor die Gottestreue gestellt), die für den Menschen unerläßlich sind: Folge Gott allein, stelle alles ihm allein anheim, dann wird er dich und die Welt tragen und erhalten, er wird die sekundären Werte in ihrem Sekundärsein, aber auch in ihrem Wertsein gewähren. Zugleich aber: Wende dich deinem Nächsten zu, erfülle deine Aufgaben am Volk, an der Menschheit, an der Schöpfung, denn gerade so ehrst du Gott, gerade so gibst du Gott, was Gottes ist.