Personale Hilfe in einer technisierten und rationalisierten Welt

Wesen personaler Hilfe

Wie sieht diese personale Hilfe nun von ihrem Wesen her aus? Als anfänglicher Umriß zeigte sich: Hilfe ist Mitsein zum Selbstsein. Was heißt in unserer Formel Mitsein, und was heißt Selbstsein darin?

Fürs erste können wir die zwei graphischen Figuren entschlüsseln, die sich in der genannten Formel miteinander verschränken. Mitsein setzt zwei personale Spitzen des Vollzuges an, ein Du und Ich, und beide in gleichem Rang, in gleicher Höhe. Mitsein zum Selbstsein aber verläuft wie eine Linie, die eine einzige Spitze hat, das Selbstsein, und dieses Selbstsein ist das des Anderen. Zusammenfassend heißt das: Der Mitseiende macht sich gleich, aber nicht um gleich zu sein, sondern einfach, damit der Andere sei, der Andere er selbst sei. In meinem Mitsein kommt es also nicht auf mich, sondern auf dich an. Nur sofern und weil es mir auf dich ankommt, komme ich selbst ins Spiel, kommt es auf mich an, darauf, daß ich bin, wo du bist. Mitsein zum Selbstsein heißt, so artikuliert: Sein, wo der Andere ist, damit der Andere sei.

[170] Personale Hilfe ist personal also nicht deshalb, weil es dabei um meine, des Helfers, Personalität geht, sondern weil es um deine Personalität geht, der du Hilfe empfängst. Hilfe empfangen bedeutet dann in erster Linie nicht, etwas von einem Anderen oder auch den Anderen selbst empfangen – beides ist zwar Bedingung, aber nicht Inhalt des helfenden Vollzuges –, Hilfe empfangen bedeutet, sich empfangen, zu sich kommen. Das gelingt freilich nur, indem man auf sich zurückzukommen vermag, weil man von sich losgekommen ist, weil dem Ich der offene Raum gewährt war, in welchem es von sich loskommen, über sich hinaus gelangen konnte; und dieser offene Raum ist das Mitsein des Anderen und mit dem Anderen.

Im Rückblick müßten wir eigentlich erstaunen: Die gängige graphische Vorstellung der Hilfe sieht gerade anders aus. Da ist ein helfendes Ich oben und ein bedürftiges Du unten, und das helfende Ich läßt sich dann sozusagen „überlaufen“ zum Zweck der Niveausteigerung des unteren. Aber solches wäre bloß sachlicher Güterausgleich, der zwar dazugehört, der aber noch nicht personale Hilfe im wesenhaften Sinne ist.

Ohne dem von uns aufgestellten zweiten Gebot zu widersprechen, dürfen wir hier ausdrücklich christlich sprechen: Schauen wir doch, wie Gott selbst das macht! Sicher, er ist der Reiche, wir sind die Armen. Er ist der Helfende, das Alles, wir das Nichts der Bedürftigkeit. Seine Liebe ist agápe, ist sich verströmender Niederstieg. Aber er wendet doch in der entscheidenden Stunde der Hilfe, in der Erlösung, die Situation um: Seine Liebe trifft uns nicht senkrecht von oben, sondern von dem her, der neben uns, mitten unter den Sündern steht, die am Jordan die Bußtaufe empfangen (vgl. Mt 3,13ff.; zum folgenden Mt 4,1–11). Gottes Liebe ereilt uns in der Horizontale der Brüderlichkeit, nicht in der Vertikale der Väterlichkeit, Gott ist uns Vater nur durch unseren Bruder Jesus hindurch. Ehe er Wunder des Ausgleichs unserer Bedürfnisse wirkt, hungert ihn selbst in der Wüste, und er lehnt das selbstbezogene und lehnt auch das von oben uns überrennende, unfehlbar gewinnende Wunder als Versuchung des Satans ab. Mehr noch, er begibt sich selbst in die Hilfsbedürftigkeit. Er ist zertreten wie ein Wurm (vgl. Ps 22,7), er schaut am Kreuz mit dem 69. Psalm nach einem Helfer aus und findet ihn nicht. Das ursprüngliche Verhältnis, nach welchem Eva die Hilfe für Adam ist, wird von Christus als dem neuen Adam auch im Blick auf uns als seine Braut, die Kirche, wiederhergestellt: Sie ist als seine Braut ihm Hilfe (vgl. Eph 5,22–33). Paulus weiß sich im Kolosserbrief als der ergänzende Helfer der Leiden Christi (vgl. Kol 1,24), und Jesus will im geringsten seiner Brüder unsere Hilfe für sich selbst (vgl. Mt 25,40). Wir helfen ihm, damit Er sei und aufgehe in allen.

Doch kehren wir in das Feld der unmittelbar und allgemein anschaulichen Verhältnisse zurück. Wir befragen zwei entgegengesetzte Grenzsituationen möglicher Hilfe und Hilfsbedürftigkeit danach, was das bedeute: Mitsein und Selbstsein.

Da steht auf der einen Seite die folgende Möglichkeit: Einem fehlt „nichts“, die sachhaften und regulierbaren Bedingungen seines Lebens sind in Ord- [171] nung. Seine Not ist allein innerlich, er kommt mit sich und seiner Welt nicht zu Rande.

Wie stellt sich da die personale Hilfe, wie da das angeforderte Mitsein dar? Gewiß nicht so, daß dieser Mensch nun „angepredigt“ wird, daß man ihm ein fertiges Bild, wie er selbst sein sollte, aufdringlich oder auch geschickt anliefert. Was not tut, ist jemand, der ihm zuhört, der Platz für ihn selbst hat, der einsteigt da hinein, wo er ist und wie es ihm zumute ist. Ein Minimum von Aktion und ein Maximum von Offenheit sind erfordert. Offenheit heißt aber Leere von sich selbst, sich selbst vergessendes und zum Verschwinden bringendes, einfaches Dasein. In der alten Philosophie sagte man, Person sei kein Wesens-, sondern ein Existenz-, ein Daseinsbegriff. Person ist nicht etwas, sie ist Dasein. Personalität ist dann am vollkommensten gelebt, wenn sie nichts ist, aber da. Nicht darauf, daß ich da bin, liegt ihr Ton, sondern darauf, daß anderes, daß der Andere einen Platz findet, um dazusein. Wir sind der Platz, auf dem der Andere steht. Das ist nicht Heroismus, und wenn es Heroismus wäre, wüßte er nicht um sich. Zum Gespräch gehört nicht, daß ich spreche, sondern daß ich höre, wenn der Andere spricht, daß das Wort des Du und daß im Wort das Du selbst Raum finde, um vorzukommen, aus sich herauszukommen. Personale Hilfe bringt sich selbst also zum Verschwinden, das besagt ihr Mitsein; und das Selbstsein, dem sie dient, besagt dies: Der Andere darf als er selbst sein, er kann aus sich heraus- und hervorkommen, über sich hinaus und so zu sich selbst finden. Daß da auch einmal ein energisches Wort und ein zupackendes Führen geboten sein können, versteht sich von selbst. Doch Hilfe ist so etwas nur, wenn es aus dem eigenen Hören kommt und wenn es zur Freiheit, zum Selber-sein-Dürfen des Anderen führt.

Der andere Grenzfall bestätigt im schärfsten Gegensatz das Ergebnis des ersten: Jemand ist in äußerster und äußerlichster Not, für personale Probleme ist kein Platz, er darf nur eines nicht, nicht verhungern und erfrieren. Hier ist die einzige personale Hilfe die sachliche, die unumwunden das tut und gibt, worauf es jetzt ankommt, ohne jede ideologische Verzierung und ohne geistliche Beikost. Personalität bewährt sich wiederum darin, daß sie sich zum Verschwinden bringt, daß sie nichts ist, aber da ist in der Selbstverständlichkeit des Zugreifens. Je weniger Aufhebens gemacht wird, je unwichtiger der Helfer ist, desto mehr wird gerade über das Sachliche hinaus etwas von ihm selbst ausstrahlen und im Etwas ihn selbst dem Anderen geben. Maß ist wiederum nicht das Ich, sondern das Du, und erst darin erschließt sich die Lauterkeit des Ich, sein personaler Rang. Auch hier erweist sich personale Hilfe nicht als ein Was, sondern als ein Wie.

Ein wahrhaft überraschender Befund. Personale Hilfe ist nichts anderes und Zusätzliches als einfach: Hilfe. Sie kann nie sich selbst konservieren, sondern muß sich und den Helfer je überflüssig machen. Der Andere soll sein, er selbst sein können, in sich selbst stehen können, nicht auf mich angewiesen bleiben. Personale Hilfe ist Ermutigung und Ermächtigung zum Selbstsein.

[172] Widerspricht das nicht dem Ansatz bei jenem Bild der Schrift von der Partnerschaft der Eva zum Adam? Gattenliebe ist doch gerade darauf angelegt, zu bleiben, die beiden ständig aufeinander bezogen und angelegt sein zu lassen. Und gleichwohl ist die schönste Liebe das „Überflüssige“, nicht mehr Kalkulierbare und Erwartbare, sie ist „nichts“ mehr als das reine Dasein beieinander und füreinander, nichts und so gerade alles. Sie stimmt also mit dem erhobenen Charakter des Personalen überein.

Es könnte nun vielleicht der Eindruck entstehen, die personale Hilfe sei in unseren Überlegungen ausschließlich der individualen Hilfe gleichgesetzt. Doch wenn es der Hilfe ums Selbstsein des Menschen geht, dann muß es ihr um alle Dimensionen gehen, die zum Selbstsein gehören; das Du aber erschöpft keineswegs die Dimension des Wir, der Gemeinschaft. Es war davon die Rede, daß das Ich im Du den Platz finden müsse, um hervorzukommen und es selbst sein zu dürfen. Im Hören des Du aufs Ich finde ich den Ort, wo ich hingehöre, wo ich geborgen bin. Dieses Hingehören, dieses Platzfinden ist indessen ganz gewährt erst im übergreifenden Raum des Wir, der Gemeinschaft. Ich muß ich sein dürfen nicht nur bei dir, sondern angesichts aller, erst dann habe ich wirklich Mut und Freiheit, ich zu sein. Personale Hilfe hat also nie den Beigeschmack solistischer Bravour, sosehr sie den ungewöhnlichen und unverrechenbaren Einsatz des Ich erfordert, sie ist genauso legitim und in vieler Hinsicht unersetzbar Gemeinschaftshilfe, nie personal, weil es eine einzelne Person ist, die hilft, sondern nur personal, weil sie zur Personalität, zum entfalteten Selbstsein hilft, zum Selbstsein im Ganzen der Gesellschaft.

Die Besinnung aufs Wesen der personalen Hilfe führte uns also nicht zum Schrei nach der Person, die im Getriebe der bösen Zeit abhanden gekommen wäre und durch ihr flammendes Beispiel Personalität wecken müßte. Im Gegenteil, sie hat zum Ertrag die nüchterne Anweisung: die eigene Person zum Verschwinden, zum Überflüssigwerden zu bringen im sachgerechten und dugerechten Dienst an der Freiheit und Selbständigkeit des Anderen. Daß dieses Überflüssigwerden des Ich nur möglich wird aus dem gebildeten und bejahten Ich-selbst-Sein heraus, daß Helfen also nicht mit dem Helfen, sondern mit der Bildung und Entfaltung des Helfers anfängt, muß freilich hinzugesehen werden.

Ein ernster Einwand liegt nahe. Was heute fehlt, sind die Leitbilder, ist der positive Inhalt und die positive Ordnung des Lebens. Nur da sein, nur zuhören, ist das nicht zu wenig? Haben wir nicht Methode und Gehalt verwechselt? Freiheit: Was soll den leeren Raum dieser Freiheit ausfüllen, die heute allenthalben gefordert wird? Selbständigkeit: Wo sollen die Menschen im Morast, in der Bodenlosigkeit der heute gängigen Meinungen und Gewohnheiten als sie selber stehen? Heißt Hilfe nicht doch eher: Verkündigung christlicher Lebensordnung, Bereitstellung von gültigen Antworten, freilich begleitet von den sachlich notwendigen Hilfsdiensten?

Es sei die Gegenfrage erlaubt: Haben wir nicht ein Arsenal voller Antworten – nur fatal, wenn sie nicht ganz zu den wirklichen Fragen passen, die heute gestellt oder doch zu stellen wären? Der Christ muß freilich wissen, [173] daß er vom großen Du über allem Du gehört wird, und wohin er selbst gehört, erst das macht ihn frei, auf den Anderen zu hören und ihm ein helfendes Hingehören und Zugehören anzubieten. Aber er antwortet nicht, indem er Antworten hat, sie verfügend besitzt, sondern indem er mit sich selbst in die Frage des Anderen eingeht und aus dieser Frage auf die Antwort hört. So erst kann der Andere sie auch selbst, als er selbst, hören lernen. Den Anderen hören und mit ihm auf die Antwort hören: das allein ist glaubwürdig, das allein auch christlich.

Es bleibt ein Dilemma: Ich kann nur helfen, wenn ich so arm bin wie der, dem ich helfe, denn sonst kann ich ihn nicht verstehen, bin ich nicht, wo er ist. Und anderseits kann ich doch nur helfen, wenn ich mehr habe als der Andere, wenn er das Vertrauen zu mir schöpfen kann, daß ich seinen Mangel ausgleichen werde, ich ihm etwas zu geben oder zu sagen habe. Nichthaben und haben sind zugleich erfordert, damit ich zu helfen vermag. Nicht ohne tiefere innere Beziehung mag uns hier das Wort aus dem 7. Kapitel des 1. Korintherbriefs in den Sinn kommen: „Haben, als hätten wir nicht“ (1 Kor 7,29). Dort ist von der Verfassung unseres menschlichen Daseins die Rede im Blick auf den wiederkommenden Herrn. Wir sind in die Welt gestellt, müssen die Welt verwalten und gebrauchen, dürfen nicht aus ihr auswandern. Und doch steht der vor der Türe, der unser Handeln, Gebrauchen und Haben schon überholt hat, vor dem alles eigene Rühmen und Unternehmen nichts ist, von dem her die Welt erst neu und wirklich und endgültig aufgehen und uns geschenkt werden wird. Deshalb heißt es eben: Im Haben der Welt frei sein von dem Gehabten für Ihn allein, haben, ohne festzuhalten, uns alles auf die offene Hand legen lassen, ohne sie zu schließen. Solches gilt, wie gesagt, im Blick auf den kommenden Herrn. Aber ist dieselbe eschatologische Haltung nicht auch erfordert im Blick auf den Bruder? Wissen wir nicht, daß auch der Bruder zu den „letzten Dingen“ zählt? Wir sind unterwegs zueinander, wir werden unüberholbar miteinander sein, Gott gebe es, in alle Ewigkeit, am einen Tisch. Jeder Nächste ist ewige Endstation unseres Weges. Und so löst sich der Widerspruch. Ja, ich habe dies oder jenes, was du nicht hast. Aber ich habe es doch nicht für mich, sondern auf dich hin. Erst von dir her, erst wenn ich es für dich habe, erst wenn es mir nicht darauf ankommt, daß gerade ich es jetzt habe, habe ich es wirklich. Ich habe es – und bin darin zugleich so arm wie du, der es nicht hat. Haben, als hätten wir nicht: dies ist Formel auch der personalen Hilfe.