Politik und Ethik
Wesensmaß des Politischen
Politik umfaßt so immer und in allem, wenn auch nur in Annäherungen, das gegenseitige Innesein der Momente von Gegebenheit, Selbstsein und Mitsein. Eine bloße Kombination der Gegebenheiten und ihrer „Sachzwänge“ oder auch [74] eine bloße Applikation einer als vorgegeben akzeptierten Ordnung auf die Gegebenheiten unterbietet das Politische der Politik ebenso wie eine bloße Synchronisierung der Freiheiten einzelner oder ein vom Kollektiv entworfenes Konzept, das Lebensmöglichkeiten und Freiheitsräume den einzelnen von außen zuteilt.
Zu den Gegebenheiten der Situation, der Ressourcen, der Verhältnisse gehören zugleich die Gegebenheit der Endlichkeit von Freiheit, aber auch der Freiheit und des umfassenden Miteinander selbst; zur Freiheit des je einzelnen gehören die Kommunikation und die Kraft der Realisierung in konkreten Gegebenheiten; zum Mitsein gehören die Partnerschaft eines jeden einzelnen und der Raum der gemeinsamen Möglichkeiten und Bedingungen. Formelhaft verkürzt, Gegebensein, Selbstsein und Mitsein müssen also in allen ihren Vollzügen und Phänomenen sich gegenseitig enthalten und durchdringen, damit das Spiel von Gegebenheiten, Freiheit des einzelnen und gemeinsamer Freiheit gelinge. Dies setzt ein nicht nur ethisches, sondern zuerst politisches Wesensmaß des Politischen voraus.
Wir waren ausgegangen vom Politischen als einem der fundamentalen Realisierungsfelder der Freiheit. Kunst, Bildung, Religion und Politik sind, jede auf ihre Weise, „Kunst der Freiheit“. Politik freilich ist Kunst der Freiheit im potenzierten Sinne, weil der Zusammenklang der Freiheiten in der Politik eine alle Daseinsbereiche umfassende Lebensgestalt erbringt. Anderseits ist gerade damit eine spezifische Gefährdung verbunden, die Endlichkeit oder die Unendlichkeit menschlicher Freiheit geschichtlich folgenschwer zu vergessen oder zu überspielen.
Politik hat einen transzendentalen Charakter, sofern alles, was ist, auch in den Kontext von Politik gehört. Alles, was ist, steht auch in ihrem Kontext, und sie kann sich in ihren „Größenmaßen“ nie auf ein nur begrenztes Feld beschränken, ohne nicht auch andere, partnerische, umgreifende, entgegenstehende Vergemeinschaftungen mit in den Blick zu nehmen und auf die Wechselwirkung zwischen diesen „Subjekten“ politischen Lebens und Handelns zu achten.
Nichtsdestoweniger wäre es fatal, aus solcher Transzendentalität von Politik eine Totalität von Politik abzuleiten, einer Politisierung des ganzen Daseins also das Wort zu reden. Vielmehr gehört es zur Freigabe als dem Vollzug von Freiheit, zum Freilassen als dem Vollzug von Macht, die Eigenart und Eigengesetzlichkeit nicht nur der je einzelnen Freiheiten, sondern auch der je eigenen Lebensbereiche zu achten. Es ist politisch relevant, daß z. B. Kunst Kunst, Religion Religion, Familie Familie bleibe. Somit ist das je Eigene verschiedener Lebensvollzüge und -bereiche politisch wichtig. Aber es ist wichtig, daß dieses je Eigene nicht politisch vereinnahmt, sondern eben freigegeben werde. Wo Politik die Eigenart anderer Daseinsbereiche substituiert oder instrumentalisiert, verfehlt sie nicht nur ihr anderes, sondern auch sich selbst.