Das Wort für uns

Wettlauf gegen den Tod

Natürlich haben die Menschen schon immer ihre Kraft dazu verwandt, gegen die Mächte, die das Leben mindern und bedrohen, anzukämpfen. Jedes Stück Kultur, jedes Stück Fortschritt ist dem Widerstand dieser Mächte abgerungen. Und doch beherrscht die letzten 400 Jahre eine Entwicklung, die in der Menschheitsgeschichte ohne Beispiel ist.

Der Mensch versucht nicht mehr nur, in der [97] unbegehbaren Wildnis des Weltalls einen umhegten Garten auszusparen, in welchem sein eigener Wille, sein eigenes Planen zumindest zeitweise und teilweise die Oberhand behalten. Nein, er ist dazu angetreten, die Gesetze, nach denen Natur und Leben ablaufen, selbst in den Griff zu bekommen, er will die Welt und ihr Schicksal steuern. In letzter Konsequenz besagen neuzeitliche Wissenschaft und Technik: Ich, der Mensch, finde mich nicht mehr damit ab, ein Schicksal zu haben, mein Schicksal gehört mir.

Dieser geheime Wunsch ist die Triebfeder, die in fast allem mächtig ist, was wir denken und tun. Das Leben läuft gar nicht mehr anders; alle müssen mitmachen bei der gemeinsamen Anstrengung, das Programm einer vom Menschen total durchkonstruierten Welt in Szene zu setzen. Nie gab es eine größer angelegte weltweite Kampagne gegen den Tod. So schrecklich auch heute noch Krieg, Hunger und Krankheit sind, wir versuchen und hoffen, demnächst ihrer Ursachen Herr zu werden. Wie viele Krankheiten, gegen die man gestern noch wehrlos war, sind uns heute nur noch vom Hörensagen bekannt. Der Mensch schiebt die Grenze seines Lebens [98] immer weiter hinaus. So gesehen, sind wir in einem keineswegs erfolglosen Wettlauf gegen den Tod. Doch gerade unsere Siege und die Kraft, die sie uns kosten, lassen uns den Tod auf eine merkwürdige Weise vergessen. Um im Bild vom Wettlauf zu bleiben: wenn ich einen überholen will, dann kenne ich eines von ihm nicht: sein Gesicht. Wir verlernen es, dem Tod ins Gesicht zu schauen.

Aber das Bild vom Wettlauf zeigt eben nur die halbe Wirklichkeit. Der Tod bleibt nicht nur mit im Rennen, er kommt, umgekehrt, auch auf jeden einzelnen von uns zu.

Nochmals unsere Frage: Warum hat der Tod, der auf mich zukommt, so wenig Chancen, mich für sich zu interessieren? Nun, auch ich bin eingespannt in jenen großen, gemeinschaftlichen Wettlauf, der ihn endgültig zu überholen versucht. Die Frage: Was muß ich tun, damit ich nicht sterbe? hatte in früheren Zeiten viel weniger Gewicht als heute. Nicht nur einmal waren die meisten von uns schon in Situationen, in denen unsere Vorfahren gestorben wären, und wir leben heute noch. Wenn ich mich aber ständig frage: Was muß ich tun, damit ich nicht sterbe?, [99] dann bleibt nur wenig Zeit und Kraft für die andere Frage: Was ist, wenn ich doch sterbe? Diese Frage tritt an den Rand.

Und der Tod selber tritt an den Rand, buchstäblich an den Rand unserer Gesellschaft. In der Regel stirbt man nicht mehr daheim. Altenheim oder Krankenhaus sind die vorgesehenen und vorbereiteten Orte für dann, wenn es einmal soweit ist. Zu Hause stört das: Mich zu pflegen, hätte doch keiner Zeit, und meine Leute würden es gar nicht zulassen, daß man nicht den ganzen Apparat moderner klinischer Medizin für mich bemüht. Die Sterbenden sind die noch am besten eingeplante und versorgte Randgruppe der Gesellschaft. Der Tod ist aus dem Gesichtskreis des Alltags verbannt, und er ist so sanft wattiert, daß möglichst der Sterbende und die anderen recht wenig von ihm mitbekommen.

Es ist noch nicht lange her, daß man vom Tod als der Grenzerfahrung gesprochen hat, die das ganze Leben durchstimmt. Mein Tod und der Tod anderer aber werden im dynamischen Gang des Lebens, seiner Ansprüche und Angebote heute zu verschwindenden kleinen Punkten. Sie fallen nicht weiter auf, und so verliert auch die [100] Frage, was es auf sich habe mit dem Tod, was gar nach dem Tod komme, an Interesse. Der Tod wird eine Randepisode, die Frage nach seinem Sinn eine Randfrage.

Randepisode und Randfrage – vielleicht ist das noch zuviel gesagt. Der Tod stört. Man kann ihn nicht brauchen. Er wird Abfallprodukt, das sich nicht wieder als Rohstoff dafür eignet, neu in den Apparat eingespeist und wieder verarbeitet zu werden. Der Tod gerät so auf die Müllhalde. Er wird unwirklich. Und erst recht unwirklich wird dann die Idee eines Lebens nach dem Tod. Man nimmt nur wahr, wofür man Wahrnehmungsorgane hat. Und man entwickelt Organe der Wahrnehmung nur für das, was einen interessiert, und das heißt heute: für das, was man brauchen kann. Sowenig ein Computer von sich aus etwas tut, wozu man ihn nicht vorprogrammiert, so wenig scheint uns Heutigen das als wirklich gelten zu können, was nicht ins Programm unseres Machens und Planens paßt. Man müßte sich beinahe fragen: Wieso sind es noch 30%, und keineswegs nur alte Leute, für die es doch noch interessant ist, was es mit dem Sterben auf sich hat?

[101] Im ausgehenden Altertum spielte eine sonderbare Denkfigur eine Rolle. Sie sagte: Der Tod ist nicht. Denn: Solange wir leben, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr da, es gibt niemand, für den er da wäre. Also ist der Tod nicht. Dieses Spielchen ist scheinbar leicht zu durchschauen. Und doch sind wir selbst in es hineinverstrickt, wenn wir in unserem Wettlauf mit dem Tod uns vormachen, er habe kein Gesicht, und uns darum von ihm nicht anschauen lassen.

Allerdings, dieses Spiel ist drauf und dran, sich selbst aufzulösen. Das Experiment der technischen Welt, die Anstrengung, sich seine eigene Zukunft selbst zu machen, die Programmierung des Lebens durch den Plan des Menschen: das wird uns unheimlich. Am Rand seiner Allmacht entdeckt der Mensch neu seine Ohnmacht. Der Wettlauf entpuppt sich als Leerlauf. Denn wir vergessen das Wohin. Was ist getan, wenn alles getan ist? Was haben wir erreicht, wenn alles machbar geworden ist? Was hat alles für einen Sinn? Diese Frage quält viele, steckt hinter viel Lebensangst und Resignation, hinter viel Unlust und Langeweile, hinter dem ganzjährigen No- [102]vemberwetter, in das unsere Welt eingetaucht ist.

Freilich treibt diese neue Erfahrung nicht sofort die Prozentzahl derer in die Höhe, die Tod und ewiges Leben für interessant halten. Aber warum nicht? Warum interessiert der Tod auch die nicht, die der Wettlauf mit dem Tod erschöpft und enttäuscht? Ein Sinn, der erst nach dem Tod kommt, kommt einfach zu spät. Nicht daß vielleicht einmal alles aus ist, erscheint als das Schreckliche, sondern daß es jetzt so weitergeht, wie es weitergeht. Jetzt müßte der Sinn sich zeigen, jetzt müßte ein Leben sich schenken, das des Lebens wert ist. Die Grenzsituation Tod ist an den Rand gerückt, der Rand selbst aber rückt in die Mitte. Grenzsituation, Randsituation ist überall.