Wie als Priester heute leben?
Wichtiger ist, an wenigen Punkten ganz und ausstrahlend dazusein, als an allen Punkten eilig und halb.
Diese Priorität soll insbesondere der Berufsfreude des Priesters dienen. Ihre zweifellos einleuchtende Gültigkeit schließt aber mit ein, daß der Priester nicht willkürlich das anpackt, was gerade auf ihn einstürmt. Man könnte eine Prioritätenliste sachlicher Art versuchen. Wichtiger scheint aber in diesem Zusammenhang der Hinweis auf Regeln für die Erkenntnis des Willens Gottes in der jeweiligen Situation. Anhaltspunkte für die Ausrichtung eines geistlichen Kompasses bietet die ehrliche Auseinandersetzung mit den widerstreitenden Gedanken bei einer Wahl, die zu [10] treffen ist bzw. getroffen wurde, aber auch das behutsame Achten auf die Zufriedenheit, die wichtige Entscheidungen begleitet, und das Nachdenken über deren Gründe. Ansonsten gelingt es gar nicht: an wenigen Punkten ganz und ausstrahlend da zu sein, statt an allen Punkten eilig und halb.
Doch noch einmal reizt das dem Priester aus guter Tradition und gültiger Sendung eingeborene Verantwortungsbewußtsein fürs Ganze zum Widerspruch. Sicher, dieses Verantwortungsbewußtsein kann die Sendung und die Person ungut glorifizierende, amts- und egozentrische Verzerrungen annehmen, und gegen sie ist anzugehen. Und doch ist es wichtig, daß es einfach einen gibt, der immer den Blick über die einzelnen Aufgaben hinaus aufs Ganze und auf jeden richtet. Und diese Leidenschaft Jesu fürs Ganze hat durchaus etwas mit der eucharistischen Mitte priesterlichen Dienstes zu tun. Kann aber dann der Priester sich damit abfinden, nur an einigen Punkten da zu sein und nicht überall? Geht es nicht darum, möglichst viele zu erreichen? Wenn der Priester diese oder jene Familie besucht und die andere nicht, wenn er bei diesem oder jenem Anlaß einen Festgottesdienst hält und bei einem anderen nicht, wenn er diese oder jene Beerdigung selber hält und eine andere nicht, wenn er an der Sitzung dieser Gruppe und dieses Vereins teilnimmt und an jener der anderen Gruppen nicht: verletzt er da nicht das Prinzip der Gleichheit? Haben nicht alle einen Anspruch auf ihn? Sicher, es erfordert Umdenken, gerade auch bei den Gemeinden, die Präsenz der Kirche nicht mit der Präsenz des Priesters, womöglich des Pfarrers, gleichzusetzen. Aber bedenken wir es nüchtern: Auch wenn die Zahl der Priester sehr viel größer wäre, so bliebe die Vorstellung der priesterlichen „Allgegenwart“ im Gemeindeleben dennoch eine Fiktion. Es geht nicht nur darum, daß er nur an einigen Punkten da ist und an anderen nicht; es geht darum, daß er an solchen Punkten da ist, durch welche ihm der beständige Rückbezug zum Alltag, zur Lebenserfahrung gesichert ist. Und es geht darum, daß er an diesen Punkten ganz und ausstrahlend da ist. Das aber will sagen: hinhörend, sich aufs Gespräch einlassend, nicht nur als Repräsentationsfigur und Sprecher prinzipieller Grußworte. Ganz und ausstrahlend, dazu gehört auch: herkommend aus der Zu-Neigung Jesu zu jedem und zugleich die Leidenschaft Jesu für alle, fürs Ganze mitbringend. Sei so da, wo du da sein kannst, daß dabei jene, bei denen du bist, sich selber öffnen über sich hinaus und auch an die anderen, ans Ganze mitdenken.
So aber wird es Dienst an allen und am Ganzen, wenn der Priester die Priorität setzt: Wichtiger ist, an wenigen Punkten ganz und ausstrahlend da zu sein, als an allen Punkten eilig und halb.