Wie als Priester heute leben?

Wichtiger ist, daß allen der Glaube bezeugt wird, als daß alle herkömmlichen Ansprüche befriedigt werden.

Gewiß muß diese Priorität in Spannung gesehen werden zu Tätigkeiten, die eine hohe Intensität der Zuwendung zum einzelnen erfordern und wo gerade diese Intensität den Vorrang haben kann. Wenn man bei Heinz Schürmann1 liest: „Die Arbeit, die eine größere Zahl fördert, ist wichtiger als die an sich gleich nützliche, die nur eine kleine Zahl erfasst“, ist man geneigt, erst seine Einwände zusammenzusuchen. Wahrscheinlich ist aber an Schürmanns Regel doch etwas dran – als Hilfe für die eigene Wahl, wo ich jetzt hingehen soll, was ich jetzt tun soll. Aber auch und vor allem kann sie als vernünftiges Argumentationskriterium im Gespräch mit durchaus wohlmeinenden Leuten dienen, die herkömmliche Ansprüche stellen, aber bewogen werden sollen, die entscheidenden Prioritäten selbst neu zu entdecken [15] und mitzutragen. Im übrigen ist sicher bewußt, daß „alle“ in diesem Fall ein Idealgrenzwert ist.

Vielleicht reibt sich mancher die Augen und fragt sich: Sagen im Ernst dies dieselben Leute, die da behaupten, daß es wichtiger sei, an wenigen Stellen ganz und ausstrahlend zu sein als an vielen eilig und halb? War nicht immer die Rede vom Mut zur Beschränkung, und hier wird nochmals das Ganze ins Spiel gebracht, und zwar nicht nur wie beim vorherigen Punkt als Horizont des Denkens und Handelns, sondern fürs praktische Wirken in der Gemeinde? Doch, es ist ernst gemeint: Wichtiger ist, daß allen der Glaube bezeugt wird, als daß alle herkömmlichen Ansprüche befriedigt werden.

Und dies paßt ganz und gar zu den vorherigen Prioritäten, gehört zu ihrem freilich je labilen Gleichgewicht hinzu, das nur im immer neuen Leben und Sehen aus dem Geist gehalten werden kann.

Es geht einfach darum, einen Maßstab zu finden für eine Spannung, in welche der Priester heute oft genug gestellt ist: Wenn ich dies oder jenes nicht mehr tue, wenn diese oder jene Feier ohne eine eigene Eucharistie, ohne einen Besuch des Priesters stattfinden muß, wenn diese oder jene Gruppe keine regelmäßige Begleitung durch einen Priester mehr erfährt, dann gibt es begreiflicherweise Widerstand in der Gemeinde. Auf der anderen Seite entgleiten immer mehr Bereiche und auch immer mehr Gruppen von Menschen dem lebendigen Kontakt mit der Kirche, der Tuchfühlung mit Glaube und Evangelium überhaupt. Was hat hier den Vorrang? Sicher die missionarische Sorge um alle. Sie wird der Priester nicht allein und in vielen Punkten nicht einmal als erster aktiv bis ins einzelne hinein wahrnehmen können. Aber als Anwalt des Ganzen muß er gerade der Anwalt dessen sein, daß auch die Fernstehenden, die wie auch immer am Rande Lebenden im Blick und in der Reich- und Rufweite des Zeugnisses und Dienstes der Kirche sind.

Nur wenn er die vorher gesetzten Prioritäten im Licht dieses missionarischen Impulses liest, wird er zu gemäßen Ergebnissen kommen. Etwa: Dienst an den Diensten, Begleitung der Mitarbeiter sollte gerade heißen, sie bestärken und stützen in der missionarischen Dimension ihrer Aufgabe. An wenigen Punkten ganz und ausstrahlend da sein, dies sollte gerade heißen: nicht nur dorthin gehen, wo man aus gediegener Tradition heraus den Priester zuerst erwartet. Man läßt sicher die Kirche nicht im Dorf, wenn man sie nicht im Dorfzentrum läßt, aber man läßt sie auch nicht im Dorf, wenn man sie – natürlich auch hier nur sinnbildhaft gesprochen – verschwinden läßt aus dem Blickfeld der Neusiedlungen am Rande. Und der Vorrang des Lebens mit dem Herrn vor der bloßen Aktivität muß uns gerade in jenes Herz des Herrn hineinführen, in dem wir zwar Ruhe finden, aber eine Ruhe, die zugleich unruhig macht in der Liebe zu denen, die sich plagen und schwere Lasten zu tragen haben (vgl. Mt 11,28–30).

Leben aus der Mitte und in der Mitte heißt leben in der Dynamik der Sendung, der missio. Nur so wird es wahr: Ich glaube an die apostolische Kirche.


  1. Schürmann, Heinz: Die Mitte des Lebens finden. Orientierung für geistliche Berufe, 75 ↩︎