Theologie als Nachfolge

Wie sieht Bonaventura?

Bonaventura ist ein Denker der Ein-sicht. Sein Blick verweilt auf dem, was ihm begegnet, und läßt es von sich her aufgehen. Wenn er am Anfang des Itinerarium dem Leser nahelegt, den Fortlauf seiner Betrachtungen nicht geschäftig zu durcheilen, sondern in höchstem Verweilen zu übersinnen,1 so kommt darin seine eigene Weise des Hinblicks zum Vorschein. Diese verweilend eindringende Hinsicht, diese verkostende Einsicht hat zwei Rückwirkungen aufs Sprechen: Zum einen gelingt ihm nicht selten die einen ganzen Denkvorgang verdichtende Formel, die vieles in eines sieht, zum anderen erwächst ihm eine Fülle von Bildern, weil das eine Wort den einen, gesammelten Blick des langen Hinschauens nicht einlöst. Man könnte, gerade im Blick auf einige der Analysen im Itinerarium, aber auch auf andere Schriften, von einer unge- [112] wöhnlichen phänomenologischen Genauigkeit, von einer Beobachtungsgabe Bonaventuras sprechen, die vielerlei Züge wahrnimmt und ineinanderfügt.

Die Tiefe solcher Einsicht ist freilich die Durchsicht auf den Ursprung. Wenn Bonaventura dazu ermahnt, nicht bei der Neugier, beim unmittelbaren Wissenwollen stehenzubleiben,2 wenn es ihm darum geht, von der ewigen Weisheit her, vom Ursprung her, von Gott her die Dinge zu sehen, so ist das nicht nur die Konsequenz aus theologischen oder philosophischen Prämissen, sondern artikuliert seine eigene Weise, an die Dinge heranzugehen: Wenn der Blick einmal auf das gefallen ist, woraufhin alles strebt, woher alles stammt und was allein den Einsatz des Lebens und Denkens lohnt, dann kann dieser Blick das nicht mehr loslassen, was er gefunden hat, dann ist die Orientierung auf den Ursprung hin die Achse, in der alles andere allein seine Perspektive gewinnt: Der gesamte Raum der Welt und des Seins wird von vielfältigen Gravitations- und Strukturlinien durchzogen, die auf die eine Mitte zustreben. Die Betrachtung im Hexaemeron über Christus als die Mitte ist die Formel dafür – Formel auch für das, was durchgängig die Sichtweise des Itinerarium prägt. Die tiefste Kraft solcher Durchsicht zum Ursprung kommt im 4. Kapitel des Itinerarium, dort also zur Sprache, wo Gott in seinem Bild, in der Seele, betrachtet wird: Es ist das Angeblicktsein von Gott, seine Näherung, sein Eindringen in uns durch Glaube, Hoffnung und Liebe, wodurch uns eine neue Sinnlichkeit des Geistes, neues Sehen, Hören, Fühlen, Tasten und Schmecken geschenkt wird, die Gott in allem und über allem gewahren.3

Die Konzentration des Blickes auf den Ursprung, die Durchsicht auf den Ursprung, das läßt indessen aus Bonaventuras Denken nicht ein System werden. Der Blick in die eine Mitte gibt gerade den Blick auch in die Mitte eines jeden Dinges, eines jeden Vorgangs frei. Bonaventuras Sehen gegenläufiger Bewegungen wurzelt in der Wahrnehmung mehrfacher Ursprünglichkeit. Dies wiederum hat zur Folge, daß der eine Blick Bonaventuras auf verschiedene Ebenen fällt und sie in Beziehung setzt. Gleichnis, Entsprechung, Verhältnis, das ist nicht nur ein Grundinhalt seines [113] Denkens, es ist auch seine Grundform. So spielerisch im einzelnen die Übertragungen etwa zwischen Heilsgeschichte und Naturgeschehen erscheinen mögen, so konsequent ist solche Denkbewegung doch von ihrem Ansatz her.


  1. Vgl. Itinerarium, Prolog 5. ↩︎

  2. Vgl. Hexaemeron II, 21, I, 17. ↩︎

  3. Vgl. Itinerarium IV, 3 f. ↩︎