Eucharistie und Weltverantwortung

Wirklichkeit – was ist das?

Die Frage klingt entweder zu banal oder zu philosophisch. Und doch ist sie der Mühe wert. Es geht uns keineswegs darum, die Wirklichkeit, die wir alltäglich erleben, zu übersteigen, um zu einer eigentlichen oder höheren Wirklichkeit durchzustoßen. Wir brächten uns dann in den Verdacht des Fuchses, dem die Trauben zu hoch hängen, will sagen des christlichen Idealisten, der die Welt unwirklich schilt, weil er sie mit seinen Idealen nicht zu verändern vermag. Es [10] geht uns schon um die Wirklichkeit, die alle meinen, wenn sie von Wirklichkeit reden. Mit dieser Wirklichkeit muß durch unser christliches Zeugnis etwas passieren und mit ihr ist etwas passiert, als Jesus Christus in die Welt kam.

Das Gefährliche in unserem gängigen Wirklichkeitsverständnis ist ein sonderbarer Fatalismus. Die Dinge – so scheint uns – sind, wie sie sind, Wirklichkeit ist ein fester Block, der uns einfach gegenübersteht, Wirklichkeit, das ist das Vorgegebene, mit dem wir uns einfach abfinden müssen. Gewiß, man hat uns nicht gefragt, ob wir geboren werden wollen. Wir können uns nicht die Eltern, die Sprache, das Jahrhundert, ja wir können uns nicht einmal das Wetter und den Boden aussuchen, die unseren Lebensraum und unsere Lebenszeit umschreiben. Die Verhältnisse, die Dinge, die Mitmenschen sind uns vorgegeben. Aber wir registrieren das alles nicht nur, wir sind dem nicht nur ausgeliefert. Sondern wir gehen auf das zu, wir bringen uns mit, unsere Interessen, unsere Befürchtungen und Hoffnungen, unsere Vorstellungen, wie es sein sollte, wie es uns ergehen soll. Und damit wirken wir verändernd auf die Verhältnisse ein. Es gibt keinen Kubikzentimeter Wirklichkeit, der nur von uns oder nur von den Verhältnissen abhinge. Dieses Wir ist genauso eine Konstitution von Wirklichkeit wie die Verhältnisse. Wirklichkeit ist immer: die Verhältnisse und wir. Die Wirklichkeit ist das Spielfeld oder Kampffeld zwischen den Verhältnissen und uns selbst bzw. was bei diesem Spiel und Kampf herauskommt. Mein Leben ist das, was ich aus meinen Erfahrungen mache; mein Leben ist zugleich das, was meine Erfahrungen aus mir machen.

Dann aber ist die Wirklichkeit doch mehr als nur Oberfläche oder Vordergrund. Ich fange ja etwas mit den Dingen an, ich habe ein Interesse an der Wirklichkeit, etwa daß ich durchkomme oder daß alles gut geht, ich bringe Ideen und [11] Maßstäbe mit, nach denen ich die Welt gestalte. Anders gewendet: ich sage immer ein Wort in die Wirklichkeit hinein. Ich und mein Wort. Sogar wenn mir alles egal ist und ich gedankenlos durch die Welt schlendere, bringe ich damit ein Wort zum Ausdruck, eben: Mir ist alles egal, es kommt nicht darauf an, ob es so oder so läuft. Zeig mir dein Wort, und ich zeige dir deine Wirklichkeit.

Das stimmt, aber es ist nicht alles. Mein Wort stößt auf ein Widerwort. Die Verhältnisse, die Dinge haben mir etwas zu sagen. Sie öffnen sich meinem Wort oder widersprechen ihm. Nicht erst in unserer Welt der Reklame und Signale, sondern im Grunde schon immer bin ich einem Gewirr von Worten ausgeliefert: Geh, genieße, nicht berühren, Zutritt verboten. Und in all dem taucht etwas auf wie ein Schriftzeichen an der Wand, das anscheinend nicht zu enträtseln ist, ein Wort in der Schwebe: Hat alles zusammen Sinn und Ordnung, Erlaubnis da zu sein – oder heißt die letzte Auskunft Verweigerung und Gericht?

Ich und mein Wort, die Welt und ihr Wort – das sind aber nochmals genauer besehen nicht einfach zwei Parteien. Die Wirklichkeit ist noch vielfältiger. Nicht nur die Welt legt mir ihr Wort nicht einfach auf den Tisch. Mein Wort hat es auch schwer mit mir. Ich weiß nicht, wofür ich mich entscheiden soll, welches das Konzept, die Aussage meines ganzen Lebens sein soll. Und wenn ich glaube, mein Wort gefunden zu haben, wenn ich mich entschieden habe: bleibe ich dann meiner eigenen Entscheidung treu? Oder verstelle ich nicht durch meine vordergründigen Interessen, durch meine Angst, durch meine Wankelmütigkeit und Halbherzigkeit oft genug mein eigenes Wort? So gehört zur Wirklichkeit auch dieser Kampf in mir: zwischen meinen Interessen und meinem Ideal.

Fertigen wir uns aus diesen Beobachtungen eine vergröberte [12] Planskizze an, wie die Wirklichkeit geht. Da sind die Dinge, die Verhältnisse, die Welt. Ihr Wort bleibt letztlich in der Schwebe. Auf jeden Fall sagt dieses Wort: Tod. Denn alle Dinge sind endlich, alle Dinge werden vergehen und ich mit ihnen. Und doch bleibt mir die Hoffnung. Ja, ich kann nur aus dem Rhythmus einer Hoffnung mein Leben wagen, ohne daß ich das Recht hätte, aus dem Lauf der Dinge und dem Lauf meines Lebens mir diese Hoffnung zurechtzulegen.

Auf der einen Seite die Verhältnisse und ihr vielleicht vorletztes Wort: Tod. Auf der anderen Seite mein Ich mit meinem Interesse, hoffen zu dürfen, und meinem Interesse, daß es mit mir und mit allem gut sein wird. Und schließlich mein Wort, mein Ideal, das mich in Pflicht nimmt, daß ich es ausrichte, mich für es einsetze, es Gestalt werden lasse. Zutiefst sind mein Interesse und mein Ideal Frage nach jenem Wort, das zu allem spricht: Ja, es ist gut, es ist im ganzen gut. Wirklichkeit, unsere Wirklichkeit ist Frage nach dem, was man Sinn und Heil nennt. Welches wird das letzte Wort sein?