Wegmarken der Einheit

Wo wird der Wille Gottes Gestalt in der Geschichte der Menschheit?

Fragen wir kurz zurück: Wovon sprechen wir, wenn wir vom Willen Gottes sprechen? Eine Unterscheidung ist hier notwendig: die Unterscheidung zwischen dem, was Gott für uns will, und dem, was Gott von uns will. Der Wille Gottes ist also zum einen Führung und Fügung, Geschenk, Zuwendung Gottes; er lenkt unser Schicksal und umfängt unser Leben. Zum anderen ist Wille Gottes aber auch Forderung, die sich an uns richtet, Anspruch, dem wir antworten sollen. Beides hängt unlösbar [77] zusammen. Gottes Wille ist nichts anderes als seine Liebe. Sie ist Liebe zum Menschen und darum Liebe zu unserer Freiheit. Denn wären wir nicht frei, so wären wir nicht Bild und Partner Gottes. Seine Liebe zu uns besteht gerade darin, daß er uns als freie, antwortende Wesen will. Dann aber will Gott das Beste für uns, indem er auch das Beste von uns will. Nur wenn wir frei mit seinem Willen für uns mitgehen, nur wenn wir uns in seinen Willen hinein einschwingen, kann seine Liebe zu uns zum Zuge kommen. So sehr Gott unserer eigenen Freiheit mit seiner Gnade und Güte zuvorkommt, so sehr er mit seiner Liebe unsere Antwort je übertrifft, so sehr er seine Sonne scheinen läßt über Gute und Böse und regnen läßt über Gerechte und Sünder (vgl. Mt 5,45), so sehr bedürfen doch diese seine Gnade und Liebe unserer freien Annahme. Das Licht erleuchtet jenes Auge nicht, das verschloßen bleibt. Der Wille Gottes, sofern er etwas für uns will und sofern er etwas von uns will, ist einer und derselbe, er ist Liebe, die nach Liebe ruft.

Wo kann ich diesem umfassenden Willen Gottes begegnen, dem, was Gott von mir und für mich will? Dem Willen Gottes also, der Liebeswille, bergender Halt, Erfüllung für mich ist und zugleich doch je neuer und je sich selber treuer Anspruch an mich? Ich kann diesen Willen nur antreffen, wenn ich Gott selber antreffe, der sein Wille ist – und wenn ich den Menschen, seinen Willen, in jener Vollendung antreffe, in welcher er vom Willen Gottes erfüllt ist und ihn erfüllt. – Gibt es eine solche umfassende, vom innersten Ursprung bis zum letzten Ziel durchreichende Gestalt des Willens Gottes?

Die Frage scheint zu kühn, um beantwortet zu werden. Sie fragt nach einer Gegenwart Gottes selbst mitten in der Welt, die zugleich Gegenwart des Menschen und der Menschheit ist. Aber gerade darum gibt es eben doch eine Antwort auf diese Frage und Sehnsucht: Jesus Christus selbst. Unsere Frage nach dem Willen Gottes ist eine christologische Frage.

[78] Blicken wir also auf Jesus selber als den lebendigen, göttlichen Willen Gottes und den zugleich gelebten, menschlich vollzogenen, in einem menschlichen Willen vollkommen Gestalt gewordenen Willen Gottes. – Eine solche Aussage von Jesus mag zunächst erstaunen. Nennen wir nicht den Sohn Gottes, die zweite göttliche Person also, den Logos, das Wort des Vaters, und den Heiligen Geist, die dritte Person, die Liebe? Die klassische Theologie sagt hierzu, durchaus zu Recht, der Sohn gehe auf die Weise des Wortes, des Intellektes, der Geist auf die der Liebe, des Willens hervor. Wir dürfen uns dies jedoch nicht so vorstellen, als ob nur der Sohn die Helle, den Intellekt habe und diese Helle, dieser Intellekt sei, der Geist aber als einziger die Liebe und also den Willen habe, Liebe und Wille sei. Es gibt nur einen Gott, also nur eine göttliche Natur, ein Wesen, und somit ein allen drei Personen unteilbar und unzerreißbar gemeinsames eines Wissen und Wollen. In Gott sind also ein Wille und drei Wollende. Der Sohn aber ist der Ausdruck des Vaters, eben: das Wort. Und so drückt der Sohn den Willen des Vaters aus, will er den Willen des Vaters ausdrücken, er ist als Wort Antwort. Vater und Sohn wollen dasselbe, wollen sich, und gerade darin geht der Heilige Geist als ihre unendliche, gleichwesentliche Liebe von ihnen aus.

Es läßt sich nicht umgehen, wenn wir vom Innersten Gottes nachdenkend reden, eben auch einmal ein Stück solcher „abstrakten“ Gedankenführung zu begleiten. Noch wichtiger als bei dem soeben Ausgeführten ist diese Bemühung in einer kurzen sich anschließenden Passage. Sie wird sich vom Ende her entschlüsseln, sie will uns entschlüsseln, welches Wunder der göttlichen Liebe die Menschwerdung ist: Gottes Wille ganz da für uns in einem menschlichen Willen, im menschlichen Willen Jesu.

In diesem Zusammenhang also wird eine dogmatische Frage bedeutsam, die uns aufs erste nebensächlich erscheinen [79] könnte: die Frage nach den zwei Willen oder dem einen Willen in Jesus, das Problem des Monotheletismus, der auf dem Dritten Konzil von Konstantinopel 680/81 verurteilt wurde.

Es ist klar: Es kann im Logos, in der zweiten göttlichen Person, welche die menschliche Natur annahm, kraft der göttlichen Natur keinen anderen Willen geben als den einen, unmittelbaren göttlichen Willen. Dieser göttliche Wille Gottes als solcher ist präsent in unserer Geschichte durch die Menschwerdung des Logos. Menschwerdung heißt jedoch, daß der Sohn Gottes die menschliche Natur annimmt, und zu dieser gehört der menschliche Wille. Die göttliche Natur ersetzt nicht die menschliche und nichts von der menschlichen in Jesus Christus. Und so lebt in Jesus Christus menschlicher Wille, der dem Willen des Vaters gegenüber, von ihm seinshaft verschieden ist, wenn auch unzerreißbar mit ihm geeint, in vollendeter Entsprechung zu ihm. In Jesus lebt der Wille Gottes in einem menschlichen Willen. Dieser gibt ihm eine menschliche Antwort, in welcher der ursprüngliche, göttliche Wille Gottes selbst rein und ganz „da“ ist und geschieht. Was Gott für uns und von uns will, das begegnet uns in Jesus Christus auf die göttliche Weise des Ursprungs und auf die menschliche Weise der Erfüllung.

Bonaventura nennt den Sohn, den Logos, die ars aeterna, die ewige Kunst des Vaters (vgl. Hexaemeron I, 13). Der menschgewordene Logos ist das Kunstwerk des göttlichen Willens. Der Gott, der Liebe ist, der Gott, dessen göttlichste Eigenschaft das Erbarmen ist, der Gott, der uns will, sich selbst in uns und für uns: er ist in Jesus Christus da mitten in unserer Geschichte. Wer Jesus sieht, der sieht den Vater (vgl. Joh 14,9). Der Liebeswille des Vaters erscheint ganz und unmittelbar in dem, den er aus Liebe zu uns gesandt und für uns hingegeben hat. Aber zugleich erscheint dieser Wille in dem, was wir sind, in unserem Menschsein. Ein menschlicher Wille, der von der Wurzel und bis ins letzte durchformt und ergriffen ist vom [80] Willen Gottes, ist die Stätte, in welcher sich der Liebeswille Gottes, in welcher sich Gott selber offenbart.

Was „will“ der Vater, was will sein ewiger Sohn, indem dieser Mensch wird? Er will uns; wir, so wie wir sind, sind das von ihm Gewollte. Indem Jesus ein einzelner Mensch wird, kommuniziert er mit dem Schicksal von uns allen (vgl. Gaudium et spes, 22 und Redemptor hominis). Unsere Berufung, unsere Herrlichkeit wird offenbar, indem die Menschheit Jesu verklärt und verherrlicht wird. Was wir in alle Ewigkeit wollen werden, wenn unsere Freiheit vollendet ist, das ist schon jetzt gewollt, schon jetzt präsent in einem menschlichen Willen: im Willen des verklärten Herrn.

Aber auch die Spannung unseres Willens zum Willen Gottes, die schmerzliche Differenz zwischen dem, was wir wollen und was Gott will, wird offenbar im menschlichen Willen Jesu, der von seinem göttlichen Willen angenommen und durchformt ist. Denn unsere Menschheit annehmen bedeutet für Jesus: bereit sein, die Spannung zu durchleiden und auszuleiden, die zwischen unserem menschlichen Willen und dem Willen des Vaters aufklafft. In diesem Sinn wurde Jesus zur „Sünde“ gemacht, er, der Sünde nicht kennt (vgl. 2 Kor 5,21). Diese erlittene Spannung ist in der Passion Daseinsform des menschlichen Willens Jesu, der nichts anderes will als den Willen des Vaters. Und dieser menschliche Wille Jesu gehört der einen göttlichen Person, die ungetrennt und unvermischt zur göttlichen Natur unsere menschliche hinzu angenommen hat. Der Wille Gottes, der sich selbst, der alles Seine für uns will, unser eigener Wille, der berufen ist zum vollen Einklang mit diesem göttlichen Liebeswillen und zugleich die schmerzliche Spannung zwischen unserem sündigen Willen und dem heiligen Willen Gottes: dies ist in einem anschaubar, dies ist eins in Jesus Christus.

So aber ist zugleich anschaubar, was Gott von uns will. Gott will vom Menschen, daß er mit Jesus lebt, bis dahin, daß Jesus [81] selber in ihm lebt, Leben seines Lebens wird. „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20): Dieses Wort des Apostels Paulus, gesprochen im Kontext seiner Rechtfertigungslehre, gibt den Maßstab und den Inhalt dessen an, was Gott von uns will. Die vom menschlichen Willen Jesu vollbrachte Lebensgestalt ist die reine Gegenwart und vollkommene Auslegung dessen, was Gott von uns will. Daher heißt den Willen Gottes tun nicht nur: alle einzelnen Worte und alle einzelnen Gebote Jesu in die vielen Situationen und Aufgaben unseres Lebens hinein übersetzen, sondern in ihnen dieses Wort und diesen Auftrag Fleisch werden lassen, so sehr, daß wir gelebtes Evangelium sind; in der anderen Richtung gelesen: so sehr, daß Jesus selber in uns lebt. Deshalb ist Jüngerschaft, Nachfolge Jesu nicht eine äußere Lebensform, die zum Inhalt dessen hinzukäme, was wir zu tun haben, um Gottes Willen zu erfüllen; nein, Jüngerschaft und Nachfolge sind essentiell Inhalt und Ziel des Anspruchs, den Gottes Wille an uns richtet.

Gemeinschaft mit Jesus, eins werden mit ihm sind so in einem das, was Gott für uns will und was Gott von uns will. Sein Wille für uns und sein Anspruch an uns heißen: wir in Jesus, Jesus in uns. So wird konkret Gestalt: Was Gott in sich ist, was Gott für uns will, was Gott von uns will, ist nichts anderes als Liebe. Solche Liebe heißt konkret: den Vater lieben und die Menschen lieben wie Jesus und in Jesus, seine Liebe zum Vater und zu den Menschen zur Lebensgestalt werden lassen.

Dann aber werden für ein Leben aus dem Willen Gottes und mit dem Willen Gottes ganz entscheidend jene Stellen, jene Kontaktpunkte, an denen wir mit Jesus kommunizieren können. Jene Stellen also, an denen sein Leben in unser Leben eindringt und an denen zugleich unser Wille an seinem Weg Maß nehmen, an denen unser Weg mit seinem Weg verschmelzen kann.

[82] Auf dem geistlichen Weg des Fokolar haben sich schon früh sechs Quellen gezeigt, an denen wir in unmittelbaren Kontakt mit dem Leben Jesu treten, sechs Quellen seiner Gegenwart, durch die er eindringt in uns und in denen sein Leben, das Leben Gottes, unser Leben wird. Sie heißen: Jesus in der Eucharistie, Jesus in seinem Wort, Jesus in den Menschen, denen er seine Sendung in der Kirche anvertraut, Jesus in jedem Nächsten, Jesus im Innern eines jeden einzelnen, Jesus in der Mitte derer, die in seinem Namen versammelt sind (vgl. Chiara Lubich, Einheit als Lebensstil, S. 24–29; Tutti siano uno, S. 36–43). An allen diesen sechs Punkten können wir tiefer erfassen, was Gott für uns will und was Gott von uns will. Er gibt seinen eigenen Sohn dahin, damit wir mit ihm ein Leib werden und untereinander ein Leib werden. Gott offenbart uns in Jesus sein Wort, damit es unser Leben werde. So soll das Wort, das in Jesus substantiell Fleisch wurde, auch in seinem Leib, der die Kirche ist, Fleisch und Leben werden. Der erhöhte Herr bleibt uns nahe in denen, die er sendet, damit sie seinen Dienst an allen fortsetzen und Kirche so als ganze „apostolische“ Kirche sei, teilhabe an der Würde und dem Auftrag des Sohnes, der apostolos, der vom Vater Gesendete zu sein für die Welt. Jesus selbst begegnet uns im Geringsten unserer Brüder, ja in jedem Nächsten, er steht vor der Tür und klopft an (vgl. Dives in misericordia, Nr. 8), damit offenbar werde: Gottes Liebe selbst will uns im Menschen begegnen, und sie will jedem Menschen in uns begegnen. Inwendiger als unser Innerstes lebt der Herr selber in uns, spricht zu uns, leitet und belebt uns: Dies ist die größte Würde und tiefste Erfüllung unseres Personseins. Jesus in unserer Mitte: Der erhöhte Herr ist nicht nur der innerste Punkt unserer Innerlichkeit, sondern er ist Geschichte, er ist Mitte, er will in dieser Welt dasein und sie durch seine Gegenwart verwandeln in liebende Kommunion mit ihm und miteinander.

Wir sahen: In diesen Quellen fließt das, was Gott für uns [83] will, wie von selbst über in das, was Gott von uns will. Wenn wir dies letztere im einzelnen nicht klar erkennen, dann geben gerade diese Quellen die Orientierung. Wer kommuniziert, wer den Herrn in der Eucharistie anbetet, der wird durch die schweigende Gegenwart seiner Hingabe bis zum letzten das Maß und die Kraft seiner Liebe verstehen, die von uns mitgetan und mitgelebt werden will. Wer Jesu Wort Buchstabe für Buchstabe und Augenblick für Augenblick mitlebt, der wird Licht finden für seinen Weg. Wer im kirchlichen Amt nicht nur eine organisatorisch notwendige Instanz sieht, sondern durch den vom Herrn Gesandten durchblickt auf ihn selber, der kann den Willen Gottes mit jener Sicherheit entdecken wie die Heiligen, die ihre persönliche Berufung am tiefsten dort lebten, wo sie sich ganz aus der Hand gaben und der Führung der Kirche anvertrauten. Wer daran denkt: Der Nächste, der mir jetzt begegnet, ist der Herr!, der wird von ihm selber angerührt und gerufen sein, der wird erfahren, was der eine und einzige Wille Gottes, die Liebe, jetzt von ihm verlangt. Wer in sich hineinhorcht, nicht auf seine Launen und Einfälle, sondern auf jene Stimme, die uns über uns hinausführt und zum glaubenden und liebenden Dialog einlädt, der wird bis ins kleinste hinein sensibel werden für die Führung und Fügung Gottes. Und wer dies alles hineinnimmt in ein beständiges Leben mit anderen, die gemeinsam mit ihm versuchen, Jesus in ihrer Mitte zu halten, der wird ein Licht entdecken, das für ihn selbst, für die Gemeinschaft und für viele Gottes Plan enthüllt.

Wer aus diesen Quellen lebt, der kann mit Paulus sprechen: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir!“ (Gal 2,20). Und er wird zugleich an sich selbst das Wort des heiligen Franz von Sales erfüllt finden: „Die Seele, die Gott liebt, ist so in den göttlichen Willen verwandelt, daß sie selber heißen kann: Wille Gottes selbst.“ (Theotimus, Buch 8, Kapitel 7; vgl. Tutti siano uno, S. 45; Einheit als Lebensstil, S. 30f).