Neuer Ansatz in Sicht?

Wort, das der Mensch sich nicht selber sagen kann

Diese Solidarität darf allerdings keine Solidarität der bloßen Ratlosigkeit bleiben. In diesem Augenblick der Geschichte geht es vielmehr darum, durchzustoßen zu dem Wort, das sich der Mensch nicht selber sagen kann. Wieviel der Mensch, wieviel seine Freiheit vermag, hat uns die Geschichte der Neuzeit gezeigt. Auf der Schwelle zu seiner „Allmacht“ findet der Mensch sich in seiner Ohnmacht; er entdeckt, daß er im letzten allein bleibt. Er ruft nach seinem Gegenüber, er ruft nach Gemeinschaft. Gemeinschaft aber kann man nicht beschließen, kann man nicht herstellen, kann man nicht erzwingen. Gemeinschaft muß sich schenken. Gemeinschaft wächst nur, wo ein anderer auf mich zukommt und ich auf ihn zugehe. In der Neuzeit lag die Initiative einzig beim Menschen, neuzeitliches Denken ging allein vom Ich, vom Subjekt aus. Doch je mehr ich meine Aktivität steigere, mit meiner Aktivität den ganzen Raum ausfülle, desto weniger lasse ich dem anderen noch Raum, daß er aktiv wird, daß er sich zeigt, daß er sich schenkt. Hier tut ein grundsätzliches Umlernen not. Der Mensch muß wieder empfangen lernen, er muß wieder lernen, sich beschenken zu lassen. Das ist alles eher als dumpfe Konsumentenhaltung: es ist im Grunde auch Aktivität, höchste Aktivität, aber nicht einsame, sondern [39] gemeinsame, Mitaktivität. Das neue Denken kann nicht mehr vom Menschen, vom Ich allein ausgehen, es muß dem sich öffnen, dem entgegengehen, der auf es zukommt. Das Wort, das der Mensch sich nicht selber sagen kann – wer sagt dem Menschen dieses Wort? Die Welt, die Natur, die Geschichte vermögen am Ende der Neuzeit schier nur noch das zu sagen, was der Mensch in sie hineingelegt hat. Worte, die wir einander sagen? Wenn sie nur Worte solidarischer Ohnmacht sind, wenn sie nur aus unserem Eigenen kommen, dann tragen sie nicht über die Not hinaus, die sie wenden sollen. Gottes Wort? Wenn Gott uns alles sagen darf, was er will und nicht nur was wir wollen, wenn er uns sein Inneres und nicht nur unser Inneres aufschließen darf, ja dann ist sein Wort das Wort von Gegenüber, das Wort, das den Kreis unserer Einsamkeit sprengt, das Wort, das befreit, weil es unsere Freiheit nicht allein läßt.

Können wir Christen also doch konstatieren: Wir haben die Antwort, wir haben schon den neuen Ansatz? Ja und Nein. Ja: Wir glauben an das Wort Jesu: „Alles, was ich von meinem Vater weiß, habe ich euch geoffenbart“ (Joh 15,15); es kann daher nie ein neueres Wort geben als das Evangelium. Und doch auch Nein: Die innerste Mitte dessen, was Gott uns zu sagen hat in seinem Sohn, hat noch kaum die Mitte unseres Denkens erreicht, hat noch längst nicht unser ganzes Sehen, Leben und Handeln in Beschlag genommen. Heißt diese Mitte nicht Gemeinschaft? Gemeinschaft mit Gott, aber mehr noch: Gemeinschaft, die Gott selbst ist? Der Gott, der sich in Jesus offenbart, ist gerade nicht das Ebenbild des neuzeitlichen Ich, ist eben nicht bloß ein Subjekt, eine Freiheit, die alles vermag, die sich in sich selbst vollendet, darin aber doch letztlich mit sich allein bleibt. Der Gott Jesu Christi ist anders – und auch [40] der Mensch und die Welt, die sich von diesem Gott her verstehen, die sich von ihm beschenken lassen, sind anders.

Müßte sich nicht christliche Theologie von da aus allererst auf die Füße stellen lassen? Deutet sich nicht hier eine Alternative zum Ansatz der Neuzeit an? Könnte nicht von hierher die gesuchte integrierende und elementare Antwort kommen, die Einheit von Denken, Leben und Gemeinschaft, erneuerte Gesellschaft und erneuerte Pastoral? Wäre es nicht – nach 2000 Jahren christlicher Geschichte – endlich fällig, daß Christen in die Mitte ihres Lebens, in die Mitte der Kirche, in die Mitte der Gesellschaft den Ansatz rückten, den uns das „Testament Jesu“ nach dem Johannesevangelium überantwortet: „Laß alle eins sein, wie du Vater in mir und ich in dir“ (Joh 17,21)?