Gerettetes Wort – rettendes Wort

Wortschwemme und Sprachlosigkeit*

Zunächst darf uns auffallen eine merkwürdige Spannung zwischen Wortschwemme und Sprachlosigkeit in unserer Sprachwelt. Man redet viel leichter über alles Mögliche und auch über Inneres als früher, mehr Worte sind durch die Informations- und Kommunikationssysteme durch Medien und Werbung fortwährend um einen jeden von uns als je zuvor. Der Quotient des täglichen Wortkonsums und der täglichen Wortproduktion dürfte noch nie so hoch gelegen haben wie in den unmittelbar vorausgehenden Jahrzehnten. Alles kommt zur Sprache überall – aber wirklich alles? Der aus einer unter jungen Leuten beliebten Geschichte her vertraute Slogan „Nur alles ist zuwenig“ trifft den Verhalt gut. Das methodische Vorzeichen unserer durchtechnisierten Zivilisation heißt: Alles ist objektivierbar, dadurch aber auch dem Zugriff offen und beeinflußbar. Also kann über alles gesprochen werden, und zwar grundsätzlich von allen, immer und überall. Dies erscheint als eine Befreiung des ansonsten an seine eigene Tiefe geketteten und in ihr gehemmten Selbst. Solche Verkettungen und Hemmungen sind gefälligst hinwegzuoperieren oder hinwegzuanalysieren, damit die Befreiung perfekt statthabe. Daß Perfektion der Befreiung eine an sich zwanghafte Vorstellung ist, liegt auf der Hand. Die mit ihren Objektivationen, deren immanenten Möglichkeiten, Sachgesetzlichkeiten, Manipulierbarkeiten verrechnete Freiheit bringt indessen ihren Überschuß durch die irrationale und doch wirkmächtige Erfahrung zur Sprache: In allem Gesagten ist doch nichts gesagt, weil ich mich selber nicht gesagt habe und weil ich das Du als Du nicht erreiche. In der Totalität von Kommunikation wird zugleich Abgeschnittensein, Isolierung der einzelnen bedrückend empfunden. Nochmals: Dies ist zu plakativ gesagt; der Prozeß neuzeitlichen Geistes ist nicht einfachhin etwas Schlimmes, ein Versuch neuer Romantik überwände nicht von innen her den Ansatz, gegen welchen er sich kehrt. Dennoch muß das Paradox deutlich im Blick bleiben: Wortschwemme und Sprachlosigkeit sind gleichzeitig, ja gleich stark Kennmal unserer Situation.