Theologie als Nachfolge
Worum es damals ging und heute geht
Als die heilige Klara vor Franziskus trat und er sie fragte, was sie von ihm begehre, soll sie mit einem einzigen Wort geantwortet haben, mit dem Wort: Gott. Wenn der Mensch von heute mit mancherlei Fragen, Anklagen, Provokationen vor die Kirche, vor die Theologie, vor den gläubigen Christen hintritt und wenn man hindurchhört auf das, worum es in solchen Fragen, Anklagen und Provokationen zutiefst geht, dann trifft wiederum kein anderes Wort als dieses selbe: Gott. Dem ersten Augenschein nach mag dies eine verwegene Behauptung sein. Sagen nicht viele, daß ihnen das Wort Gott gerade nichts mehr sagt? Wird es nicht Hülse ohne einen Inhalt, den der Mensch in seinem Leben verifizieren könnte? Müßte man nicht eher formulieren: Dem Menschen von heute geht es um die Zukunft, um die glaubwürdige Gestalt des Menschseins, um Identität, um Ursprünglichkeit, um das, was man den Sinn des Lebens nennt? Und doch zeichnet sich immer deutlicher ab, daß christliche Antworten, die sich um die letzte Eindeutigkeit des Bekenntnisses herumdrücken, Antworten, die nicht durchstoßen zum befremdlich Eigenen und Eigentlichen des Glaubens, nur zum Anlaß werden, sich enttäuscht von denen abzuwenden, die im Grunde doch nichts anderes anzubieten haben als ungezählte Analysen, Heilslehren, Versuche und Entwürfe sonst auch. Kirche und Theologie – und genaugenommen jeder Christ – sind gefordert, Gott, nichts weniger als ihn, glaubhaft, verständlich und lebendig werden zu lassen. [12] Die Situation, in der Klara vor Franziskus trat, und die Situation heute berühren sich und klaffen zugleich auseinander. Als Franz von Assisi kam, lag hinter ihm in der Geschichte des Abendlandes ein gutes halbes Jahrtausend gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit des Christlichen, wie sie sich in der Epoche des Mittelalters, wie sie sich im Reich und in seiner Kirche herausgebildet hatte. Wenn heute die Menschen danach fragen, was das Christentum ihnen an Alternativen anzubieten habe, dann handelt es sich eben um Alternativen. Hinter uns liegt wiederum fast ein halbes Jahrtausend des Unselbstverständlichwerdens Gottes, zunächst im Gefüge der Wissenschaft und schließlich in dem der Gesellschaft. Das ist die scharfe Differenz zwischen uns und dem Zeitalter des Franz von Assisi. Aber gerade in dieser Differenz bricht auch die Verwandtschaft auf. Das Mittelalter war gewiß geprägt von der Bewegung der Tradition, will sagen vom Rhythmus des Überlieferns vorgeprägter Wahrheiten und Werte, die als maßgeblich ans Künftige überantwortet werden sollten. Doch zugleich mit diesem Weitergeben des unantastbar Überkommenen lief doch auch die anders gerichtete Bewegung: Das Mittelalter ist von Anfang an Geschichte der Reform, und das heißt der je neuen Rückfrage an den Ursprung, ob er noch lebendig und mächtig sei in den Gestalten, die ihn wie ein heiliger Schrein verschließen, damit er nicht verlorengehe. Es genügt, in diesem Zusammenhang an die lange Reihe der mönchischen Reformbewegungen zu erinnern; Benedikt von Aniane, Cluny, die Zisterzienser sind Belege dafür. In diesem Zug der Geschichte steht nun wie ein Fanal Franz von Assisi. So unverwechselbar er ein Mensch des 13. Jahrhunderts ist, so eindeutig war und bleibt er der Durchbruch evangelischer Ursprünglichkeit. In ihm sind die geheiligten Worte wieder als lebendige Worte erfahrbar, in ihm fällt der Stein, der die Spitze eines ragenden Gewölbes ziert, wieder auf den Erdboden und wird zum Grundstein, auf dem sich gegenwärtiges, alltägliches Leben bauen läßt. Gott von ihm verlangen, wie es Klara tat, heißt, in einem den Urtext des Evangeliums und seine radikale Übersetzung verlangen – beides ist untrennbar, beides dasselbe. Der [13] selbstverständliche Gott wird in ihm wieder zum göttlichen, zum unselbstverständlichen Gott. Um das, was Franz von Assisi der damaligen Tradition gegenüber an Neuem und ursprünglich Altem darstellt, geht es auch heute: Nur der unselbstverständliche Urtext des Evangeliums, zugleich aber nur die neueste und radikalste Übersetzung dieses Urtextes holen die Geschichte der Verdrängung und des Vergessens Gottes in der Neuzeit auf. Der Mensch sucht heute wieder nach Ursprünglichkeit. Er hatte sich, neuzeitlich, selbst zum Ursprung seiner Welt gemacht in Wissenschaft, Technik, Philosophie und Konstruktion der Gesellschaft. Nun ist er der von sich selbst Verplante, der in seinen eigenen Ansatz Verstrickte und Verfangene, der von sich selbst um seine Freiheit Betrogene geworden. Heute will er den Ursprung, der er ist und doch nicht mehr ist, wiederhaben – und er ahnt zumindest, daß er diesen Ursprung nur dann hat, wenn er nicht nur sich als Ursprung, sondern die reine, unverfügbare Ursprünglichkeit, christlich gesprochen: wenn er Gott erfährt und empfängt. Die Sprache, in der heute gefragt und verstanden wird, ist eine andere als die des 13. Jahrhunderts, das Wort, nach dem diese Sprache fragt und das sie selbst wieder sprechend werden läßt, ist dasselbe: Gott. Das Drängen nach dem Ursprung, in letzter Instanz: das Drängen nach Gott, bindet – über allen anderen Anschein hinweg – die Epoche des Franz und die unsere zusammen. Doch die Verwandtschaft reicht noch weiter. Was bei Franz faszinierte, war eben dies: Er sprach nicht vom Ursprung, er erfuhr den Ursprung und gab ihn in seiner Existenz, in der Begegnung mit ihm anderen zu erfahren. Auch heute begnügt sich der Fragende nicht mehr mit stimmigen Antworten, die aus irgendwelchen noch so einsichtigen Maximen abgeleitet werden. Er will den Ursprung, er will die Antwort, er will den Sinn erfahren. Und schließlich: So begrenzt die mittelalterliche Welt uns heute erscheint, sie war eine ganze Welt. Gerade dadurch hat Franz in seine Epoche hinein wirken können, daß seine Erfahrung nicht in einen Auszug aus der Welt mündete, sondern daß das noch so Neue und Andersartige seines Lebens und seiner Botschaft die [14] Zuwendung zu Gott allein und die Zuwendung zur Welt miteinander verband, daß diese abseitige Gestalt des armen Bruder Franz mehr zu integrieren vermochte vom Gesamt menschlicher Erfahrung als die gängigen Formen und Formeln des Lebens und Denkens seiner Zeit. Allerdings: Die Parallelen sind Parallelen zwischen dem, was in Franz begegnet, und dem, was wir heute brauchen und suchen. Franz ist wie ein Positiv, zu dem sich unsere eigene Situation zwar als Negativ verhält, aber die Distanz zwischen diesem Positiv und dem Negativ läßt sich nicht durch Erinnerung allein überbrücken. Erinnerung kann nur Anlaß sein, um neue Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit zu gewinnen; schenken kann sie sich nur aus sich selbst, eben: unmittelbar und ursprünglich.