Erzählen von Klaus Hemmerle. Beitrag zu einer Austauschtagung

Wunder, Macht und Wahrheit (Hemmerles Erzählung von der Wahrheit)

Ich möchte gern von einem Aspekt erzählen von dem, was mich fasziniert sein und zugleich erschrecken lässt, wenn ich Texte von Hemmerle lese. Man könnte diesen Aspekt betiteln mit: Wunder, Macht und Wahrheit.

Es ist faszinierend, wie geistreich und klug Hemmerle vom Wahren spricht, oft auch ohne es bezeichnen zu müssen.1 Nehmen wir zum Beispiel das Wunder als Öffnung des Spielraums des Wahren. Bei Hemmerle heißt das Wunder an einer Stelle „verschenkte Unmöglichkeit2. Es ist selbst eine Unmöglichkeit: Dass da im Leben, wo nichts zu erwarten ist, die Verbergung einer Zukunft und eines Sinnes aufscheint. Es entsteht Glaube aus dem Wunder, dass es sich weiterzuleben lohnt.

An einer anderen Stelle nennt Hemmerle deshalb die Unmöglichkeit einer Situation „Kennzeichen für die Stunde Gottes“3. Er entdeckt für sich das Aussichtslose, das Nichts und Unmögliche als Orte, nein, besser: Spielräume Gottes in der Welt. Der Kontrollverlust oder die enttäuschte Erwartung in einer aussichtslosen Situation sind Gelegenheiten des Wunders.

Irgendwie erscheint es dann auch völlig plausibel, dass Hemmerle Macht in einem Lexikonartikel zunächst völlig auf die Macht Gottes bezieht. Menschliche Macht gibt es zwar auch – aber entscheidend ist die Macht Gottes, die sichtbar wird, wenn menschliche Macht an ihr Ende kommt. Zwar solle der Christ ggf. bereit sein, Macht anzuwenden, allerdings „nur habend, als hätte er nicht“4. Hemmerle scheint es um eine Macht zu gehen, die das Sich-Bewahren des Seins übersteigt und zum Gewähren wird, die am Ende also nur aus Güte bestehen kann und insofern Wahres wundersam offenbart.

Das ist klug, gibt zu denken und bildet theologisch eine Brücke zwischen Neuscholastik und Konzilstheologie. Und es fasziniert mich, dem Theologen Hemmerle zu begegnen, der in mir hier und immer wieder die Frage danach wachruft, was eigentlich ein theologisches Argument ist. Wirklich: Wenn ich Hemmerle lese, frage ich mich manchmal selbst, ob das, was ich denke, sage und schreibe überhaupt echte Theologie ist. Diese Dynamik bereichert und belehrt mich. Und gerade deshalb ist es mir wichtig, an dieser Stelle weiterzudenken – und zwar da, wo Hemmerle die Macht grundsätzlich relativiert.

So wie ich Hemmerles theologische Argumentation verstehe, spitzt sie sich letztlich immer zu: Macht wird als relative Macht, relativ zur Macht Gottes dargestellt. Aber was es mit der absoluten Macht der Folterknechte über ihre Opfer auf sich hat, der Macht der schweren Krankheit über das ausgelassene Leben oder der Macht der Vergewaltiger und Missbrauchstäter über ihnen hoffnungslos Unterlegene – darauf fällt es mir schwer, mit diesem Verständnis von Macht eine zufriedenstellende Antwort zu finden. Denn wird es nicht irgendwie höhnisch, eine Verbergung hinter dieser absoluten Macht allein und nur zu denken, von Spielräumen Gottes auch nur auszugehen, wenn ich mit Menschen in solchen Situationen der hoffnungslosen Unterlegenheit konfrontiert bin? Ist das nicht eine Verdopplung dieser Unterlegenheit? Hält diese Theologie nicht die gefährlichen Werkzeuge in der Hand, mit denen sie es irgendwie immer besser wissen kann? Zugegeben: Das ist eher ein erfahrungsgebundendes und emotionales als ein sachliches Argument; aber das entkräftet es nicht automatisch.

Natürlich wird man sagen können, es handle sich in den besagten Fällen um entrelativierte Macht, die eben deshalb missbrauchte Macht ist, weil sie nicht, wie Hemmerle es an einer Stelle formuliert, „je losgelassen und von Gott allein her gültig zu sein“5 versucht. Aber diese Relation und Relativität der Macht entzieht sich einer Kontrolle jenseits theologischer Kriterien (letztlich begründet Hemmerle gut scholastisch ja auch das staatliche Recht noch theologisch). Und dass gerade diese relative Macht durch theologische Kriteriologie an sich anfällig für ihren Missbrauch ist, zeigen nicht erst die jüngeren Diskurse um geistlichen Machtmissbrauch – darauf wiesen schon Friedrich Nietzsche und Michel Foucault hin. Die Gefährdung einer Inanspruchnahme klerikaler Macht durch das Expertenwissen der Hirten zum Heil scheint dieses Machtverständnis nicht zu bearbeiten. Zumindest entdecke ich es nicht. Man wird sich vielleicht sogar fragen müssen, ob nicht die von Hemmerle oft angeführte Ohnmacht selbst zur Machttechnik werden kann – vielleicht sogar zur spezifisch klerikalen. Und das hinterlässt ein Fragezeichen bei mir: Kann ich mir diesen Aspekt zu eigen machen? Eher provoziert mich Hemmerle dazu, weiterzudenken, anders zu denken. Und in Anknüpfung an ihn die Ohnmacht als Wesenszug eines Gottes in Beziehung zu verstehen. Aber gerade deshalb auch die Ohnmacht als Wesenszug einer Theologie zu entfalten, die diesem Gott entspricht. Sodass die Theologie dann nichts mehr besser weiß…


  1. Was er natürlich an anderer Stelle tut, wenn er zum Beispiel von „[d]er Wahrheit [spricht], die mich zu mir macht und die das, was ist, zu dem macht, was es ist, und die die Welt zu dem macht, was sie ist, indem sie sich zwischen uns ereignet. Wahrheit im Sinn eines nicht nur konstatierenden Resultates, sondern Wahrheit im aktiven Sinn dessen, was gewährt und in Anspruch nimmt, kommt also ins Spiel.“, Macht und Ohnmacht ↩︎

  2. Spielräume Gottes und der Menschen ↩︎

  3. Glauben – wie geht das? ↩︎

  4. Art. Macht ↩︎

  5. Art. Macht ↩︎