Glauben – wie geht das?
Zeit der Kirche: vier Entwürfe im Neuen Testament
Das gesamte Neue Testament artikuliert die Botschaft Jesu und die Botschaft von Jesus im Licht und im Kontext der Kirche und ihrer Geschichte. Ebenso gilt freilich die Umkehrung: Das ganze Neue Testament artikuliert Faktum, Leben und Geschichte der Kirche im Licht und im Kontext Jesu, seiner Botschaft, der Botschaft von ihm dem Christus. An Einzelheiten ist uns dies bereits aufgefallen. Es geht den Evangelien nicht nur darum, was Jesus damals gesagt und getan hat, sondern darum, wie heute Gemeinde aus seinem Wort leben kann und an seinem Maß sich orientiert. Wenn Jesus dafür gelebt hat und dafür gestorben und auferstanden ist, daß Menschen aus ihm und mit ihm leben, dann ist es nicht eine historische Ungenauigkeit, sondern eine innere Konsequenz, wenn sein Wort und sein Handeln so überliefert und „redigiert“ werden, daß daraus die Maßgabe, freilich nur seine Maßgabe für die Christen, für die Kirche Profil erhält.
Es gibt über diesen allgemeinen Gesichtspunkt der Überlieferung und Redaktion hinaus im Neuen Testament große Kompositionen und Entwürfe, die den Sinn von Kirche und Kirchengeschichte, die Gegenwart Jesu bei seiner Kirche und in der Geschichte seiner Kirche zum Thema machen. Wir können hier nicht alle diese Entwürfe vorstellen und können jene, auf die wir hinweisen, nur in einem perspektivisch verkürzten Hinblick umreißen. Vorab sei nochmals an unsere leitende Frage erinnert; sie lautet, für diese Thematik neu formuliert: Wie geht Leben in der Kirche als Leben mit dem lebendigen Herrn?
Der Entwurf des Lukas
Zwei leitende Gesichtspunkte für Lukas sind in seinem Doppelwerk, dem Evangelium und der Apostelgeschichte, der Heilige Geist und Jesus als der Heiland der Welt, der Menschheit.
Die Logik, die das Leben Jesu und die Anfangsgeschichte der Kirche umspannt, heißt: Es „muß“ zur Verwerfung Jesu durch die Re- [112] präsentanten Israels, es muß zu seinem in liebendem Erbarmen getragenen Kreuzestod kommen, damit sich so seine Arme über die ganze Menschheit ausbreiten und sein Heil zu allen Völkern, bis an die Enden der Erde, gelangt.
Die Kraft, in welcher dieser Weg Jesu als Weg Gottes erfolgt und in welcher er sich über das Lebenswerk Jesu hinaus in die Kirche fortsetzt, ist der Heilige Geist. Aus ihm wird Jesus empfangen (Lk 1,35), er wirkt auf mannigfache Weise im Umfeld der Kindheitsgeschichte Jesu (vgl. Lk 1,15.17.41.67; 2,25ff.). Er ist es, der nicht nur bei der Taufe am Jordan auf Jesus herabkommt (3,22), sondern ihn auch von dort wiederum weiterführt und dann in die Situation der Versuchung hineingeleitet und schließlich von ihr hinweg zu seinem Wirken nach Galiläa (4,1a.b.14). Das erste Wort, im Lukasevangelium das Jesus in seinem öffentlichen Wirken spricht, ist das Zitat aus Jesaja: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt“ (Lk 4,18). In der lobpreisenden und dankenden Hinwendung zum Vater, die Jesus als den Sohn und Offenbarer des Vaters ausweist, stellt Lukas Jesus vor als vom Heiligen Geist erfüllt (vgl. Lk 10,21).
Derselbe Geist, in dem Jesus getauft wurde zu seinem Werk, wird auch die Jünger taufen, damit sie für ihr Werk ausgerüstet sind (vgl. Apg 1,5; Lk 24,49). Dieser Geist wird die Jünger zur Zeugenschaft befähigen, damit allen Völkern die Bekehrung gepredigt und ihre Sünden vergeben werden (vgl. Lk 24,47). Der Geist wird die Enge der Frage sprengen, die noch beim Abschied vor der Himmelfahrt die Jünger an den Herrn richten: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?“ (Apg 1,6). Er gibt scheinbar keine Antwort, sondern verweist auf den Geist und verheißt ihnen, daß sie seine Zeugen sein werden in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde (vgl. Apg 1,8).
Wie sehr vom Pfingstereignis an (Apg 2,1–13), in dem sich für Lukas die endzeitliche Vision des Propheten Joel einlöst (vgl. Apg 2,16ff.), alle Schritte im Bericht der Apostelgeschichte Schritte im Geist und auf Antrieb des Geistes sind, braucht hier nicht weiter dargelegt zu werden. Statt daß Gottes Reich unmittelbar anbricht, [113] kommt der Geist und läßt von innen her die Sendung und die Geschichte Jesu zur Sendung und Geschichte der Kirche, in ihr aber zum Heilsweg Gottes für die Völker, für die Menschheit werden. Durch seinen Geist ist es der erhöhte Herr, der seiner Kirche nahe bleibt und in sie eingreift (vgl. Apg 7,55f.; 9,1–19; 23,11).
Wie nun geht die Geschichte Jesu, über ihn selbst hinaus, durch seinen Geist im Zeugnis weiter? In der Apostelgeschichte zeichnet sich eine „Gangart“ ab, die zwei aufeinander bezogene, je aufeinander folgende Schritte umfaßt: Sendung und Gemeinschaft. Die Jünger sind versammelt, um den Geist zu erbitten und zu empfangen (1,12–14), und aus dem Geistereignis wächst sofort die erste Missionspredigt des Petrus heraus (2,14–36). Missionarisches Zeugnis wiederum hat zur Folge das Wachstum der Gemeinde, deren Gemeinsamkeit selbst aufs neue zum Zeugnis wird (z. B. 2,41–47).
Weisen wir noch hin auf einige Züge im Leben der Kirche, wie es die Apostelgeschichte exemplarisch herausstellt. Predigt ist Zeugnis, das die Grundtatsachen des Heils jeweils hineinspricht in die Situation der Hörer (vgl. die Missionspredigten des Petrus in 2,14–36; 3, 11–26; 10,34–43; 13,16–41; 17,22–31). Von hohem Belang ist die Gemeinschaft zwischen den vom Herrn gesetzten Verantwortlichen, wo es gilt, Entscheidungen über die Kirche zu treffen (Matthiaswahl 1,15–26; die Wahl der Sieben 6,1–7; Apostelkonzil 15, 1-35). Einheit ist aber nicht nur Einheit der Verantwortlichen bei Entscheidungen, in welchen der Geist wirken soll, sondern ist Lebensform der Gemeinde überhaupt, geistliche und auch materielle, bis hin zur Gütergemeinschaft (vgl. bes. 2,43–47; 4,23–37; 5,12–16). Einheit und Gütergemeinschaft, das heißt auch Austausch der Erfahrung, Teilhabe dessen, was in der ganzen Gemeinde geschieht, und Teilhabe der einen Gemeinde am Leben der anderen (vgl. 4,23; 11,18.22; 11,27–30; 12,5; 14,27; 15,30–35; 20,17–38; 21,18–20).
Kennzeichnend für die „Missionstheologie“ der Apostelgeschichte ist nicht zuletzt die innige Verbindung von missionarischem Erfolg und Leiden (vgl. z. B. 5,31; 7,54 und 8,2; 9,16; [114] 13,51; 20,23f.). Wo Verfolgung die Mission behindert, da erweitert Gott ihren Radius, da öffnet er eine neue Tür (vgl. 8,4; 11,19.22ff. 27–30).
Schließlich: Sendung und Gemeinschaft erhalten unter dem Antrieb des Geistes ihre gefügte Ordnung, Leben wird geregelt, Ämter werden eingerichtet, und in beidem wird das Wirken des Herrn und seines Geistes, wird seine Nähe zur Kirche, wird sein Bleiben bei ihr angenommen und ernstgenommen (vgl. die Matthiaswahl 1,15–26, die Wahl der Sieben 6,1–7, das Apostelkonzil 15,1–35; vgl. auch in der Abschiedsrede des Paulus in Milet die Erwählung von Vorstehern bzw. Bischöfen, die der Heilige Geist eingesetzt hat, um die Kirche Gottes zu weiden 20,17–38).
Im Blick auf unsere leitende Frage läßt sich der Entwurf des Lukas so zusammenfassen: Der Geist, der in Jesus wirkte, geht von ihm, dem erhöhten Herrn, weiter auf die Zeugen, die er sendet. Gemeinschaft und Sendung werden zum Grundrhythmus des Lebens und Wachsens von Kirche, der sie innerlich zur Einheit zusammenbindet und äußerlich in immer neue Horizonte hinauswachsen läßt. Der Geist sorgt für das Gerüst jener Strukturen, durch die der Ursprung weiterwirkt in der Geschichte. Derselbe Geist wird wirksam in der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe innerhalb der einzelnen Gemeinde und über sie hinaus. Er erweist sich schließlich in der leidenden Schicksalsgemeinschaft mit dem Herrn und Hirten der Kirche.
Der Entwurf des Matthäus
Neues Israel, gelebt in brüderlicher Gemeinde – so könnte man einen Grundzug des Kirchenbildes umschreiben, das uns Matthäus einläßlich in seinem Evangelium vorstellt. Es fällt auf, wie sehr er das Sprechen und Wirken Jesu auf die Kirche hin liest, und so ist es theologisch zu rechtfertigen, aus einigen Grundzügen seiner Aussage über brüderliche Gemeinde eine Antwort auf unsere „österliche“ Frage zu erheben: Wie können wir in der Kirche mit dem lebendigen Herrn leben?
[115] Wir wiesen schon darauf hin: Die letzten Worte seines Evangeliums sind Auftrag und Verheißung: „Mir ist alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern, tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Und ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt“ (Mt 28,18–20).
Was Jesus in der Vollmacht des Vaters gesagt und gewirkt hat, das vertraut er als der Auferstandene den elf Jüngern an. Jesu Vollmacht ist ganze und grenzenlose Vollmacht. Und diese Vollmacht, in der er die Herrschaft des Vaters angesagt und durch Zeichen beglaubigt hat, in der er Menschen in seine Nachfolge gerufen und zu Jüngern gemacht hat, in der er den endgültigen Willen Gottes, die neue und vollkommene Gerechtigkeit verkündet und ermöglicht hat, soll gerade jetzt weiterwirken, da er als der Auferstandene in dieser seiner Vollmacht vom Vater bestätigt ist. Die Jünger sind es, die nach außen hin handeln. Aber er handelt und wirkt in ihnen, er ist bei ihnen alle Tage bis ans Ende der Welt. Das Matthäusevangelium schließt nicht mit einem Wort des Abschieds, sondern mit der Zusicherung des Bleibens. Vom Abschied, von der Distanz ist hier nicht die Rede. Dieses Bleiben, diese Nähe, diese Gegenwart prägen auch das gesamte Evangelium. Der Bericht über das, was Jesus vorösterlich sagte, fließt immer wieder über in die erläuternde Anmerkung, die daraus die Anwendung für das Leben der Gemeinde zieht Es ist derselbe Herr, der damals sprach und der heute bleibt.
Besonders deutlich wird dies durch die Entsprechung von Ende und Mitte des Matthäusevangeliums. Wir haben über letztere schon gehandelt, haben die österliche Bedeutung des Wortes schon ans Licht gehoben: „Wo zwei oder drei...“ (Mt 18,20).
Sieben Hinweise sollen die Sicht der brüderlichen Gemeinde und des Bleibens Jesu bei ihr nach Matthäus entfalten.
a) Die Bergpredigt spricht vordergründig nicht von der Kirche. Und doch enthält sie das Grundgesetz der brüderlichen Gemeinde. Die zu ihr gehören, sollen die neue Lebensart, wie die acht Seligkeiten sie vorstellen, sollen die neue Gerechtigkeit, die vollkommener [116] ist als jene der Pharisäer und Schriftgelehrten, exemplarisch darlegen und so – wir erinnern uns – Salz der Erde und Licht der Welt sein (vgl. Mt 5,13–16). Die Weise, wie man miteinander umgeht, verzichtend auf Vorteil, vergebend, nicht vor Gott hinzutreten wagend, solange man mit dem Bruder nicht ausgesöhnt ist, die Weise auch, wie man betet und auf die Äußerlichkeit bloßer Formen verzichtet: das hat höchste Bedeutung für den „anderen Stil“ der brüderlichen Gemeinde.
b) Die zweite große Jesus-Rede des Matthäusevangeliums, die Aussendungsrede (9,35–11, 1), nimmt in der Situation des Anfangs die nachösterliche vorweg: jetzt, nach Ostern, ist erst recht Ernte, jetzt ist es erst recht notwendig, daß der Herr Arbeiter aussendet (vgl. 9,37). Die Zwölf, die das Evangelium hier vorstellt, werden sowohl in ihre Vollmacht eingewiesen wie auch in die Lebensform der Nachfolge, die diese Vollmacht beglaubigt. Es geht um die Treue zur Sendung in Schlichtheit und Armut. Es geht um den Mut zum furchtlosen Bekenntnis, auch wenn Verfolgungen kommen. Es geht um die Bereitschaft, um der Nachfolge willen Trennung und Kreuz auf sich zu nehmen. Und schließlich wird, der Sache nach, jenes „Wie“ der Sendung eingeführt, an dem die Vollmacht in der Kirche hängt. Der Vater hat den Sohn gesandt, und wer den Sohn aufnimmt, nimmt den Vater auf. Genauso gilt: Jesus sendet die Apostel, und wer sie aufnimmt, der nimmt ihn auf (vgl. 10,40; zum Wie vgl. Joh 20,21). Mit einem Wort: Sendung wird als Weitergeben der Vollmacht des Sendenden erklärt, der Gesandte aber wird zurückgebunden an das Maß der Hingabe, der Opferbereitschaft des Herrn der Sendung.
c) Bei Matthäus wird das von Markus und Lukas nur knapp überlieferte Petrus-Bekenntnis, das der ersten Leidensweissagung voraufgeht, auf bedeutungsvolle Weise erweitert (vgl. Mt 16,13–20 gegenüber Mk 8,27–30 und Lk 9, 18–21). Nicht nur das Bekenntnis ist breiter und tiefer gefaßt, sondern ihm folgt auch die Antwort Jesu, die den Namen und das Amt des Petrus erklärt und darin wichtige Aussagen über die Kirche macht. Nur hier (außer in der Bemerkung von Mt 18,17) ist in den Evangelien das Wort Kirche [117] ausdrücklich genannt. Nicht bloß die Verankerung der Kirche in Petrus, sondern auch zwei andere Züge sind für die Auffassung des Matthäusevangeliums von Kirche äußerst bedeutsam. Einmal die Verheißung, daß Kirche nicht untergehen wird. Wie der Herr bei ihr bleibt, so wird sie ihrerseits bleiben, solange die Geschichte dauert. Ihr Bestand ist dem Gesetz des Vergebens in das neue Niveau der Gottesherrschaft hinein enthoben. Und zum anderen überträgt ihr Jesus Vollmacht, an die sich Gott selber bindet: was Petrus auf Erden bindet und löst, das soll im Himmel gebunden und gelöst sein – eine Zusage, die hernach (vgl. 18,18) auf die Zwölf insgesamt ausgedehnt wird.
Kirche wird hier auf schockierende Weise ins Menschliche hineinverwoben: der schwache Mensch Petrus als der Fels, der sie trägt – Menschen anvertraute Vollmacht, die im Himmel gilt, so daß man versucht ist zu sagen, „wie auf Erden so im Himmel“. Und zugleich wird Kirche ebenso schockierend emporgehoben in die neue, bleibende Ordnung der Gottesherrschaft. Sie wird selber unüberwindlich bleiben, sie wird durch die Zusage des Herrn in die geheimnisvolle Gleichung zwischen Himmel und Erde einbezogen.
d) Der zentrale Text über brüderliche Gemeinde bei Matthäus ist die „Gemeinderede“ (18,1–35). In der brüderlichen Gemeinde ist der Kleinste der Größte. In die Gottesherrschaft kann nur der hineinkommen, der nicht sich selber und seine Größe mitbringt, sondern so vom Nullpunkt aus anfängt wie das Kind (vgl. Verse 1–5). Dann aber hat der Kleinste und Schwächste in der Gemeinde das größte Recht. Jeder in der Gemeinde trägt Verantwortung für ihn, keiner darf ihm Anstoß geben (Verse 6–11).
Das erfordert eine Umkehrung unserer herkömmlichen „Prioritäten“. Wer hundert Schafe hat und eines hat sich verlaufen, der geht dem hundertsten nach und läßt die neunundneunzig in den Bergen zurück. So denkt der Vater in seiner Sorge um den Kleinsten, so soll die Gemeinde denken (Vers 12–14).
Dem entspricht die Bemühung um Versöhnung, wo es Spannung und Verfehlung gibt. Was in der Stille abzumachen ist, soll nicht ins Gerede gezogen werden. Allerdings braucht es auch die ordnende [118] Funktion und Vollmacht der Gemeinde – sie muß anerkannt bleiben. In ihr findet, gerade um der Versöhnung willen, auch die Vollmacht des Bindens und Lösens ihren Platz (Vers 15–18).
Wie auf Erden, so im Himmel. Dies erhält eine weitere Bestätigung: Worum wir auf Erden einmütig bitten, das wird der Vater im Himmel tun. Und der Grund solcher „Gleichung“ zwischen Himmel und Erde scheint auf: Jesus, der Herr, ist nicht nur zur Rechten des Vaters, sondern er ist lebendig in der Mitte seiner Gemeinde, dann wenn wir wahrhaft in seinem Namen, in seinem Geist miteinander eins sind (Verse 19–20). Der Himmel kann auf Erden sein, wenn der von sich her bei seiner Kirche bleibende Herr auch von ihr her, von uns her zum Zuge kommen, im konkreten Miteinander dasein und wirken kann.
Der souveräne Neuanfang Gottes, unser Leben nicht aus dem Hergebrachten und Mitgebrachten, sondern aus seiner grundlosen Huld, kommt am deutlichsten zum Durchbruch in der Vergebung. Deshalb schließt das Kapitel mit der Ermahnung zum unbegrenzten Vergeben unter den Brüdern, die das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger unterstreicht. Ein letztes Mal wird der Himmel an die Erde gebunden. Nur in dem Ausmaß, wie wir Vergebung gegenseitig leben, kann der Wille des Vaters im Himmel, uns zu vergeben, wirksam werden (Verse 21–35).
Der Vorrang des Kleinsten, der „Grundvertrag“ der grenzenlosen gegenseitigen Vergebung, Vollmacht als Dienst an dieser Ordnung der Versöhnung, gemeinsames Gebet, das seine Erhörung in sich trägt, weil der Herr in unserer Mitte lebt und mit uns betet: dies ist der Spannungsbogen des Kapitels, in dem Kirche so groß und so demütig uns in den Blick tritt, wie wohl nirgendwo sonst im Neuen Testament.
e) Vor der Rede über die Endzeit, in der letzten Woche Jesu in Jerusalem, überliefert Matthäus die scharfen Herrenworte des 23. Kapitels gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Sie brandmarken eine Haltung, die der Evangelist wohl auch in der jungen Kirche als Gefahr heraufkommen sieht. Jedenfalls sollen sich das Verhalten der Jünger und somit die Ordnung der Gemeinde abheben von Äu- [119] ßerlichkeit, Unehrlichkeit und Ehrsucht, die es schwer wenn nicht unmöglich machen, sich der Gottesherrschaft zu öffnen.
Wir sollen uns nicht Rabbi nennen lassen, weil nur einer unser Meister ist, wir alle aber Brüder sind; wir sollen auf Erden niemand unseren Vater nennen, weil wir nur einen Vater haben, den im Himmel; wir sollen uns nicht Lehrer nennen lassen, weil nur einer unser Lehrer ist: Christus – der größte unter uns soll unser Diener sein (vgl. 23,8–11).
Noch einmal also dieser Kontrast: Das Matthäusevangelium setzt die Vollmacht in der Kirche ganz hoch an, sieht den Herrn selbst in ihr wirksam und rückt so Kirche und Reich Gottes nahe aneinander. Und doch – sollten wir nicht besser sagen: gerade darum? – wendet sich dasselbe Evangelium so scharf gegen jede Selbstherrlichkeit, jede Verwechselbarkeit mit irdischem Machtgebaren. Wo sich Vollmacht im Herrn gründet, da ist sie doppelt verpflichtet, auf den Herrn hin durchsichtig zu sein. Dies heißt aber durchsichtig zu sein auf seine Demut, seine Schlichtheit, auf seine Bereitschaft zu vergeben und sich zu erbarmen.
f) Da es in der brüderlichen Gemeinde um den Herrn, um das Leben mit ihm geht, darf in unserem Zusammenhang auch die Rede Jesu vom Maßstab beim Jüngsten Gericht erwähnt werden. Was wir dem geringsten der Brüder getan oder nicht getan haben, das haben wir dem Herrn getan oder nicht getan (vgl. Mt 25,40 und 45). Nicht nur in jenen, die der Herr sendet, sollen wir ihn aufnehmen und erkennen, sondern gerade auch in jenen, bei denen es nur allzu nahe liegt, ihn zu übersehen: bei denen, die am Rande stehen. Nur einen „Meister“ nennen, ihn aber im Geringsten der Brüder erkennen und im Geringsten auf den Herrn zugehen: das ist das Lebensgesetz nicht nur für den einzelnen Christen, sondern im Sinne des Matthäusevangeliums auch für die Gemeinde, für die Kirche.
g) Kehren wir nochmals zum Sendungsauftrag Jesu am Ende des Matthäusevangeliums zurück. Kirche lebt bei Matthäus gewiß zumal in der brüderlichen Gemeinde. Aber sie schließt sich nicht in ihr, sondern öffnet sich – der Missionsauftrag gehört zum Grundvollzug der Kirche: „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen [120] zu meinen Jüngern.“ Und Kirche lebt bei Matthäus zwar vom persönlichen Vollzug der Jüngerschaft, die Maß nimmt an Jesu Beispiel. Aber nichts desto weniger lebt Kirche auch aus dem Sakrament: „Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (vgl. Mt 28,19). Zum ganzen Bild des Matthäusevangeliums von der Kirche gehört auch der Zug des Missionarischen und Sakramentalen.
Den Herrn in der Kirche sehen, ihm in allen Richtungen begegnen, ihm das Leben der Gemeinde beständig offenhalten, mit ihm, dem gegenwärtigen Herrn, leben – das ist das Konzept des Matthäusevangeliums von der Kirche.
Der Entwurf des Paulus
Paulus entfaltet das Thema Kirche in einer kaum zu erschöpfenden Vielfalt Wir weisen nur auf zwei sich eng berührende Ansätze hin: auf das Geheimnis der Kirche nach dem Epheserbrief und auf die paulinische Redeweise vom Leib Christi.
Auf die Bedeutung von Kirche im Epheserbrief sind wir bereits im Zusammenhang mit der Heilsbedeutung des Kreuzes zu sprechen gekommen. Erinnern wir uns einiger wichtiger Momente: Gottes Heilsplan ist es, nicht nur das eine Volk, in dem er seinen Namen in der Welt bekannt machte, Israel, sondern alle Völker in die erfüllende Gemeinschaft mit sich selbst zu führen. Dieser Heilsplan wird erfüllt in Jesus Christus. Er ist die Verbindung des Menschen vertikal zu Gott, indem er das, was den Menschen von Gott trennt, die Schuld, in seinem Kreuz überwindet. Er ist – durch die umfassende, nicht auf Israel eingeschränkte Heilsbedeutung seines Todes, in welchem er alle Schuld der Welt ausleidet – zugleich in der horizontalen Richtung der „Friede“, der aus dem Getrennten eine neue Einheit bildet (vgl. Eph 3 insgesamt und 2,11–22). Dieser Heilsplan wird offenbar in der Kirche, die Juden und Heiden zu einer neuen Einheit zusammenfaßt. Jesus Christus, Zielpunkt der Schöpfung (vgl. Eph 1,10), ist auch der „Schlußstein“ der Kirche (Eph 2, 20). Als Ziel ist er zugleich das alles einende Prinzip, Haupt des [121] Leibes (Eph 4,15), der in den verschiedenen Diensten und Gaben des Herrn zusammenwächst, die dem Einzelnen fürs Ganze verliehen sind. Somit wird Kirche zum Raum, in dem Gott und Gottes Heil in der Welt lebendig sind (vgl. Eph 2,20–22), ja zum lebendigen Christus selbst. Er hält sich, sein Geheimnis, in seinem Leib, der Kirche, in die Geschichte hinein (Eph 4,7–16).
Zwei Konsequenzen sind zu beachten. Einmal prägt das Verhältnis der Kirche zu Christus auch das Leben des einzelnen Christen. Christus gibt sich hin für die Kirche in einer Liebe ohne Grenzen (vgl. Eph 5,2), er erlöst die Menschen in die Kirche hinein und bildet sie als seinen Leib, teilt sich ihr mit und ist so in ihr anwesend und durch sie anwesend in der Welt. Die Kirche verdankt sich ganz und gar Christus, lebt aus ihm, für ihn und hat ihre Freiheit und ihren Eigenstand gerade in der totalen Hinordnung auf ihn allein.
Dies wird im Verhältnis des Mannes zur Frau und der Frau zum Manne geheimnisvoll abgebildet (22–32). Was zunächst aussehen kann wie Ideologisierung einer Überordnung des Mannes über die Frau und umgekehrt einer Unterordnung der Frau unter den Mann mit der einzigen „Überhöhung“ durch das Gebot der Liebe, das ist im Grunde „Revolution von innen“. Was Herr-sein heißt, wird allein im Dienst Christi, in seiner Entäußerung sichtbar, denen sich die Kirche verdankt. Was Einordnung und Unterordnung bedeutet, ist innerlich von Grund auf umgewendet, indem es Hinorientierung auf Jesus Christus wird.
Auf entsprechende Weise werden auch die anderen Beziehungen unter den Menschen in der Gemeinde neu und alle diese Beziehungen heißen: leben auf Jesus Christus hin, leben mit ihm, leben auf das unbedingte Recht und die unbedingte Macht seiner befreienden Liebe hin (vgl. 5,21–6,9). Die Kirche leben heißt im Epheserbrief mit Christus leben, auf ihn hinleben – und dies in allen Beziehungen unseres Daseins und unserer Welt.
Zum anderen bleibt noch hinzuweisen auf die Bedeutung, die dem Aposteldienst des Paulus für die Kirche zukommt. Er ist in der Perspektive des Epheser- und auch des Kolosserbriefes der beson- [122] dere Anwalt dieses Geheimnisses: Gott in Jesus, Heil für alle Menschen, und Kirche Zeichen und Ort dieses universalen Heils. Sein Dienst in der Kirche ist Dienst für die Kirche, und dieser Dienst verlangt von ihm dasselbe, was Jesus einsetzte, um Kirche zu gründen und zu bilden: das Leiden (vgl. besonders Eph 3,1–13; 4,1; Kol 1,24–29).
Das Stichwort „Leib Christi“ ist bereits gefallen. In ihm verdichtet sich paulinisches Denken über die Kirche zur Antwort auf die Frage: Wie die Kirche leben und in der Kirche mit dem erhöhten Herrn leben?
Die Rede vom Leib Christi gehört nicht nur organisch in den Zusammenhang des Epheser- und Kolosserbriefs (vgl. Eph 1,23; 4 insgesamt; 5,23.30; Kol 1,18.24), sondern ebenso zentral auch in den anderen, noch ursprünglicheren, des Römer- und Korintherbriefs (Röm 12,4–8; 1 Kor 12 insgesamt). In beiden Briefen läßt ein verwandter Anlaß den Apostel das Bild vom Leib Christi für die Kirche einführen. Wir leben in der „enthusiastischen“ Frühzeit des Glaubens. Das Andersartige der neuen Daseinsweise fasziniert. Mitunter gefährdet das Streben nach dem Ungewöhnlichen die Einheit, Gelassenheit und Klarheit jenes Zeugnisses, in dem der Unterschied des Geistes Jesu und seiner Botschaft von den unruhigen Geistern sichtbar wird, die sich selbst und ihre eschatologische Ungeduld feiern. Man ist erinnert an das 4. Kapitel des 1. Johannesbriefs, wo eine Marke der Unterscheidung der Geister heißt: klares Bekenntnis zu Jesus als dem im Fleisch gekommenen Sohn Gottes und Mut, die Liebe zu tun, an die solcher Glaube glaubt (1 Joh 4,1.6.7–16). Man ist ebenfalls erinnert an den Philipperbrief, wo Paulus die Gesinnung Jesu der Gemeinde als Maß ihres Verhaltens vorstellt: Demut, Gehorsam, Entäußerung. Diese Haltung, die Jesus dem Vater gegenüber lebt, soll jeden dem Nächsten gegenüber beseelen, damit Gemeinde die Stätte sei, an der Jesus Christus „durchkommt“ in dieser Geschichte (vgl. Phil 2,1–11).
Im Römer- und 1. Korintherbrief nun läuft folgende Denkbewegung im Hintergrund der Texte über die Kirche als den Leib Christi: Wer ja sagt zur unbegrenzten Liebe Christi, der sagt auch ja zu sei- [123] nen eigenen Grenzen. Nicht nur zu den Grenzen seiner persönlichen Begabung und Eigenart, sondern auch zu den Grenzen der Gabe, die er empfangen hat, um darin seinen Glauben zu leben und zu bezeugen. Wir haben alle den einen Geist empfangen, in dem wir bekennen können: Jesus ist der Herr! Sicher ist dieser Geist und ist das, was er mitteilt, so überwältigend groß, daß jeder sich ganz dafür einzusetzen hat. Aber dem einen gelingt der Rat, dem anderen die praktische Hilfe, dem dritten die geistliche und geistige Durchdringung der geglaubten Botschaft. Der eine Geist ist jeweils da in einer bestimmten Ausprägung, wie er sich nach außen hin umzusetzen und zu bezeugen vermag.
Das ist aber nicht Schwäche, sondern „Stärke“, will sagen Berufung, die einem besonderen Plan Gottes entspricht. Durch seine besondere Gabe hat jeder etwas für die anderen, fürs Ganze. Wenn wir vom Herrn und seinem Geist leben wollen, dann müssen wir voneinander, von Zeugnis und Dienst leben, die der einzelne dem anderen erweisen vermag.
Man kann auch vom Ganzen der Gemeinde her denken und muß dann sagen: sie braucht unterschiedliche Dienste und Gaben, braucht ein Geflecht von verschiedenen Funktionen. Wäre jeder für sich allein schon das Ganze, dann wäre er selbstgenügsam in sich abgeschlossen, der Grundimpuls des „Für“, der doch das Leben und Sterben Jesu prägt und der das Kennzeichen seines Geistes ist, drohte verloren zu gehen, könnte sich nicht mehr spiegeln in unserem persönlichen Leben und im Leben der Gemeinde. Nur seiner eigenen Eingebung, nur seinem eigenen Drang und Wunsch entlangleben heißt nicht auf Jesus hin leben, der nicht für sich, sondern für die anderen gelebt hat. Wir dürfen in der Begrenzung unserer eigenen Gabe und unserer eigenen Funktion das schlechterdings Unbegrenzte, Göttliche, dürfen in ihnen jenes Eigenste und Unverwechselbare leben, das Christus in die Welt gebracht hat: das Für, die Liebe. Sowohl die Reflexion des 1. Korintherbriefs über die unterschiedlichen Gnadengaben wie auch die Ermahnung des Römerbriefs über den Sinn unterschiedlicher Dienste münden jeweils in die Betonung der Liebe als des Einen, das über allem steht und in al- [124] lem zur Geltung kommen muß (vgl. Röm 12,9f.9–21 insgesamt; 13,8–10; 1 Kor 12,31 und 13 insgesamt).
Nur der lebt für Christus, der für die anderen, fürs Ganze lebt. Nur der lebt von Jesus Christus, der auch von der Gnade der anderen, der vom Ganzen und im Ganzen lebt. Nur der hat die ganze Liebe Christi, der sich mit seinem begrenzten Dienst und seiner begrenzten Gabe bescheidet, aber auch jeden begrenzten Dienst und jede begrenzte Gabe und jedes andere Glied des Ganzen ohne Einschränkung annimmt. Nur dann kommt Jesus Christus selbst zur Geltung und Darstellung in der Kirche und in der Gemeinde, wenn Kirche und Gemeinde das geordnete Zueinander und Miteinander vieler Gaben und Dienste sind, zusammengehalten vom einen Wort Christi durch die eine Liebe, die das Zeichen des einen Geistes ist.
Im Anbruch der Gottesherrschaft ist das Ganze, Endgültige bereits hereingekommen in unser Leben, aber wir können dieses Ganze und Endgültige nur leben und wir leben es sogar in gesteigertem Maß, wenn unsere eigene Begrenzung, unsere eigene Endlichkeit für uns selbst zur Gabe und zum Geschenk werden: In solcher Begrenztheit und Endlichkeit können wir das göttliche Für leben, können wir jenen neuen Zusammenhang und jene neue Einheit leben, in der sichtbar wird, daß wahrhaft Gottes Leben in uns lebt, daß Jesus Christus und sein Geheimnis in uns und zwischen uns sich Raum schafft und kundgibt für diese Welt.
Wie ernst es Paulus ist mit dem Weiterwirken und Weiterleben Christi durch die Kirche in der Welt, läßt sich daran ablesen, daß die Kirche ihm nicht nur der Leib Christi, sondern Christus selber ist (vgl. 1 Kor 12,12).
In einem anderen Umfeld nennt der 1. Korintherbrief auch jenen Grund und jene Kraft, die aus uns vielen den einen Leib Christi, den einen Christus wirkt: die Eucharistie. In ihr schenkt sich der Herr uns, um in uns mächtiger zu sein als wir selbst. Durch sie lebt der Eine in den vielen, der in jedem einzelnen wichtiger und größer ist als nur er selbst und seine Unterschiedenheit von dem anderen: „Ist der Kelch des Segens, über den wir den Segen sprechen, nicht Teilhabe am Blut Christi? Ist das Brot, das wir brechen, nicht Teilhabe [125] am Leib Christi? Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot“ (1 Kor 10,16f.).
Der Leib Christi hat ein einziges Haupt, Kirche hat einen einzigen Herrn: Christus. In der Kirche gibt es zwar die Unterscheidung der vielen Dienste, Gaben und Funktionen, aber es gibt die umfassende, je größere Einheit miteinander. Lebensform der Kirche ist das Für-sein und Inne-sein des einen im anderen, durch das sich Christi Sein für uns und Sein in uns darstellt und vollendet. Von dieser Aussage darf kein Abstrich gemacht werden – und doch legen Römer- und 1. Korintherbrief es uns nahe, noch auf einen anderen Aspekt innerhalb derselben Kirchentheologie des Paulus hinzuweisen. Paulus schärft der Gemeinde ein, daß sie der Leib Christi ist, daß keiner sich über den anderen erheben, keiner sich vom anderen absondern soll – und er tut es kraft der Autorität, die er sich als dem Apostel gegeben weiß. Er tritt der Gemeinde gegenüber, spricht zu ihr im Namen, im Auftrag, in der Vollmacht des Herrn. Er bringt vom Herrn her das ein, was ihm als unverfügbarer Grund und Auftrag übergeben ist. Sicherlich, Paulus setzt alles ein, um in der Gemeinschaft, im Austausch des Glaubens seinen Auftrag und seine Gabe einzubringen. Er tut dies aber nur, wenn er sich nicht davor zurückzieht, dort, wo es sein muß, auch die Stelle des Gegenüber zur Gemeinde einzunehmen, um in ihr die Offenheit für den einzigen Herrn und das einzige Haupt vollmächtig zu gewährleisten.
Das apostolische Amt – und die Kirche hat von ihren Anfängen her dies auch für seine von ihm verschiedene und doch mit ihm verbundene Nachfolge in Anspruch genommen – steht in der Kirche, aber es leitet sich nicht aus der Kirche ab, sondern wächst von Jesus Christus her durch seine besondere Gabe und Sendung in die Kirche hinein. Daß Jesus Christus das einzige Haupt der Kirche und der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, bleibt in der Kirche lebendig durch dieses bevollmächtigte Amt, das man bezeichnen darf als „Sakrament der Vermittlung der einzigen Mittlerschaft Christi“. Dies erfordert von denen, die das Amt innehaben, ebenso einen unbequemen Mut zum Gegenübersein zur Gemeinde wie eine demütige, sich entäußernde Durchsichtigkeit für den einzi- [126] gen Herrn und das einzige Haupt und darin ein dienendes und brüderliches Innesein in der Gemeinschaft, einen unkomplizierten Austausch des Glaubens und Lebens mit allen, ein achtsames Hören und Ernstnehmen der anderen Gaben und Dienste, mit denen der Herr durch seinen Geist den Leib der Kirche ausgestattet hat.
Mit einem Wort: In dem Maße, wie auch geistliches Amt sich als Liebe, nichts als Liebe versteht und vollzieht, bringt es die unverfügbare Vorgabe der Liebe Christi in die Kirche ein und lebt mit allen und unter allen die eine, nahtlose Gemeinschaft des Schenkens und Beschenktwerdens. Nochmals anders gesagt: Struktur der Sendung und charismatische Struktur sind kein Entweder-Oder und sind auch keine auseinander liegenden Hälften oder Bestandstücke, sie sind die beiden Aspekte der einen Struktur jener Liebe, die sich unverfügbar von Gott her schenkt, in der alle alles ihm und alles einander verdanken und schenken.
Der Entwurf des Johannes
Es scheint klar und verhältnismäßig schnell abgemacht zu sein: Das Wesen von Kirche ist nach Johannes gegenseitige Liebe. Solche Liebe hat die Dimensionen: Bleiben im Wort (vgl. Joh 15,7; 1 Joh 2,14.24); Bleiben in Jesu Gebot (vgl. Joh 15,9–12); Bleiben in der sakramentalen Gemeinschaft mit Jesus (vgl. Joh 6,27.56); Bleiben in der Gemeinschaft miteinander (vgl. Joh 17,11f.). Das Leben von Kirche ist vor allem nach innen gerichtet, in ihr soll jene Liebe, die Jesus in die Welt gebracht hat, soll seine Einheit mit dem Vater lebendig – so aber soll sie die Welt anziehen, Magnet werden nach außen, missionarische Kraft entfalten (vgl. Joh 13,35; 17,20–23).
Solche Zusammenfassung ist zweifellos zutreffend. Kirche heißt bei Johannes: Bleiben im Herrn, Bleiben des Herrn bei den Seinen kraft seines Geistes in der gegenseitigen Liebe und Einheit und durch solches Bleiben immer tieferes und weiteres Durchdringen der Welt. Das Wort für Bleiben heißt im Griechischen auch Wohnen, die Bleibe ist die Wohnung. Der scheinbar so statische Charakter der Worte Bleiben, Wohnen erschließt indessen eine eigentüm- [127] liche Dynamik und Dramatik in der Kirchentheologie des Johannes, und darauf wollen wir noch einen Blick werfen. Man könnte, in zugespitzter Formulierung, das Johannesevangelium als eine Geschichte vom mehrfachen „Wohnungswechsel“ interpretieren.
Das „Vorspiel“: Von allem Anfang an wohnt das Wort bei Gott, der Sohn am Herzen des Vaters. Nun – und damit beginnt die Geschichte – kommt der Sohn in die Welt, nimmt Fleisch an, schlägt sein Zelt unter uns auf (vgl. Joh 1,1f. und 18; 1,14). Er wohnt bei uns, damit wir Menschen ihn in uns wohnen lassen und durch ihn beim Vater Wohnung nehmen. Dies beginnt damit, daß Jesus Jünger um sich sammelt. Das erste Wort, das die Jünger an ihn richten, heißt nun: „Rabbi – das heißt übersetzt: Lehrer –, wo wohnst Du?“ (vgl. Joh 1,38). Er lädt ein, dort zu sein, wo er ist, er gibt teil an seiner Erfahrung mit dem Vater. Ja, er ist das Haus Gottes in dieser Welt, seine Wohnung. Seinen Tod deutet er als Einreißen des Tempels Gottes, den er in drei Tagen wieder aufbauen wird (vgl. Joh 2,19–22). Seinen einzigartigen Anspruch begründet Jesus damit, daß er von oben kommt, daß er allein weiß, wovon er spricht, wenn er von Gott und vom Göttlichen spricht (vgl. Joh 3,11.31–36). Das begrenzte Wohnen Gottes in diesem oder jenem Tempel wird durch Jesus überholt, Jesus eröffnet den neuen Raum des Wohnens Gottes, den Raum der Anbetung im Geist und in der Wahrheit (vgl. Joh 4,19–24).
Das ist der Anstoß, den Jesus mit seinem Anspruch erregt: er will in uns bleiben und wir sollen in ihm bleiben, indem wir ihn als Brot des Lebens in uns einlassen, ihn, sein Fleisch und Blut, essen und trinken (vgl. Joh 6,56). Dies ist so schockierend, daß viele sich von Jesus trennen. Wahre Jüngerschaft aber entscheidet sich hier. Petrus spricht im Namen der Zwölf: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du allein hast Worte ewigen Lebens!“ (Joh 6,68), und so bleiben sie bei ihm. Und nur wer bei ihm, beim Sohn bleibt, bleibt überhaupt – der Knecht hat keine Bleibe im Haus des Vaters (vgl. Joh 8,35).
Darum geht es: daß das Wort Jesu, daß sein Gebot, daß seine Liebe in die Menschen eintritt. Wenn dies geschieht, kann er und [128] kann mit ihm der Vater in uns kommen, Wohnung in uns nehmen (vgl. Joh 14,23).
Doch nun bereitet sich, Schritt um Schritt, jenes vor, wodurch Jesus sich das Verständnis beim Volk und auch bei den Jüngern zu verwirken droht. Er sagt: Ich gehe fort, ich werde von der Erde erhöht. Die Antwort der Menge: Das kann nicht sein, denn der Messias bleibt für immer bei uns; ein Messias, der wieder fortgeht, ist keiner (vgl. Joh 12,32–36). In der Stunde des Abschieds knüpft Jesus erneut an dieser Stelle an. Er sagt zu den Jüngern, daß er fortgeht und ruft so die große Betroffenheit und Ratlosigkeit hervor (vgl. Joh 13,31–36). Er führt aber zugleich aus dieser Ratlosigkeit heraus. Denn zum einen sagt er, wohin er geht: er geht zum Vater, um uns dort Wohnung zu bereiten (vgl. Joh 14,1f.), und er wird kommen, um uns zum Vater heimzuholen (vgl. 14,3). Er ist der Weg, weil in ihm der Vater schon da ist und weil in ihm wir schon beim Vater sind (vgl. Joh 14,4–11 und 20). Zum anderen aber schenkt er uns, in seinem Gehen zum Vater zugleich zu uns kommend, seinen Geist und macht uns zu seiner Wohnung (vgl. Joh 14,18–23).
Hier nun ist alles das eingeholt, was wir einleitend über das Kirchenbild des Johannes gesagt haben. Kirche sein heißt, wir haben unseren Ort nicht hier, sondern wir haben ihn mit Jesus im Vater. Kirche ist notwendig „weltfremd“, weil in der Welt kein Bleiben ist, weil nur der Ort, wo er ist, Leben ist. Dies bedeutet beständige Bedrängnis in der Welt (vgl. Joh 15,18–25; 16,1–4.20–22), es bedeutet zugleich einen von außen nicht erreichbaren, aber auch nicht zerstörbaren Frieden (vgl. Joh 14,27; 16,33). In solcher „Weltfremdheit“ ist Kirche freilich ebenso „weltoffen“ – denn an ihr liegt es, durch ihre Einheit, durch die gegenseitige Liebe der Welt jene Alternative anzubieten, an der sie inne wird: Hier ist wahrhaftes Leben, hier ist wahrhaft Gott (vgl. Joh 13,34f.; 17,21–23). Die erstaunte Frage des Apostels, warum Jesus sich den Seinen und nicht der Welt offenbaren will, wird von Jesus scheinbar übergangen, indem er darauf verweist: wer an seinem Wort festhält, bei dem wird er wohnen (vgl. Joh 14,22f.). Im Grunde liegt hier doch die tiefste Antwort: Ort der Offenbarung Gottes an die Welt ist jene Gemein- [129] schaft, in deren Mitte der Herr wohnt. Solches „Bleiben“ in ihm, in seiner Liebe, so daß er in uns bleiben kann, ist der Weg, wie Kirche geht, weitergeht, hinausgeht in die Welt.