Heiliges Leben in heutiger Zeit*

Zeitlichkeit

Drei ausgezeichnete Zeiten spielen immer wieder dort eine bedeutsame Rolle, wo Menschen sich rufen und anziehen lassen vom heiligen Gott im Heute. Es ist der Augenblick; es ist der Werktag; es ist die elfte Stunde.

Der Augenblick:

Mitten in einer Welt des Planens, des Stresses oder der Langeweile gibt es eine Alternative Gottes: der gegenwärtige Augenblick. Religion und Glaube zu allen Zeiten haben es auf besondere Weise zu tun mit der Zeit. Das schlechterdings heilige Geheimnis sind die Zukunft und die Herkunft. Beide sind uns entzogen, beiden kommen wir aus Eigenem nicht bei. Wir können forschen und Gründe herauspräparieren – wir selber und die Welt sind allem dem voraus uns schon gegeben. Wir können planen und Weichen stellen; daß Zukunft kommt, je neu kommt, ist uns zugewiesen und geschenkt. Genau das ist es, was Menschen „fromm“ macht. Sie stehen dem gegenüber, der Zukunft und Herkunft schenkt. Angst, die mit Leistungen und Opfern abgegolten wird, Schläue, welche die Zukunft wissen wollend und verfügen wollend beschwört oder dem Geheimnis abringt: das sind die Fehlformen. Erforschen, was geht, planen, was geht, und das, was nicht mehr geht, was wir nicht mehr vermögen, einfach überspielen und ausblenden: das ist Kurzsichtigkeit, die auf die Dauer der Beklemmung und der nachdenklichen Frage nicht Herr wird. Zukunft und Herkunft sich selber überlassen und verfügend den Augenblick packen: das ist jene Lebenskunst, die es nur bis zum Bau von Kartenhäusern bringt. Glaube aber ist: Herkunft und Zukunft lassend empfangen, indem der Augenblick zum Augen-Blick, zum Angeschautsein und Gerufensein wird. Augenblick: Er schaut mich an und ich schaue ihn an, schaue jetzt auf ihn allein, frei von mir und allem anderen, frei von Ängsten und Anhänglichkeiten an vorher und nachher.

Heute gewinnt dies besondere Dringlichkeit. Aus der vom planenden Ich und Wir besetzten oder so gerade entleerten Zeit ausbrechen und so die Zeit neuwerden lassen im Leben des Jetzt, das ist die Zeit heiligen Lebens. Die Zeit ist, säkular betrachtet, nicht mehr umfangen von bergenden Ordnungen, die Morgen und Heute regeln. Sie ist zur Zeitwüste geworden, die uns so in jenes Leben im Augenblick weist, wie es die großen biblischen Gestalten des Aufbruchs, des Wüstenweges uns zeigen: Abraham und Mose, aber doch auch Maria und Paulus oder Petrus auf dem Wasser. Nicht vorgegebene Sicherheiten, sondern ergehender Ruf ist es, was trägt; nicht Verfügen geht, sondern nur Nachfolge im Jetzt, Nachfolge, die so freilich nicht kürzeren, sondern längeren Atem braucht, radikalere Treue.

Werktag:

Unser Jahrhundert ist geistlich und theologisch gekennzeichnet durch ein neues Ernstnehmen der Inkarnation. Daß das Wort Gottes sich hineingegeben hat in unsere Lebensverhältnisse, sie als die Sprache durchbuchstabiert hat, in welcher Gott selber sich uns schenkt, dies ging mehr und mehr den Glaubenden auf, gerade angesichts der befremdlichen Andersartigkeit und Eigengewichtigkeit, die unsere Welt im Kontext neuzeitlicher Wissenschaft und industrieller Zivilisation annahm. Heiliges Leben ist inkarniertes Leben, ist Antwort der Nachfolge in den ganz und gar „profanen“ und gewöhnlichen Bedingungen heutigen Lebens. Der „kleine Weg“ einer Therese von Lisieux, die Nazaretfrömmigkeit eines Charles de Foucauld, die Arbeiterspiritualität eines Joseph Cardijn zeugen ebenso davon wie das Gewicht, welches in den erwähnten Kapiteln von „Lumen gentium“ und dann in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ die irdischen Realitäten als heilsbedeutsam annehmen.

Die elfte Stunde:

Unser Jahrhundert schwingt zwischen dem Als-ob grenzenlosen Fortschritts und eschatologischen Ängsten, mögen diese auch recht säkularisiert einherkommen. Daß es so nicht weitergehen kann, daß nicht nur für den einzelnen, sondern für das Ganze alles auf dem Spiel steht, daß – ob auf ein Weltende oder eine andere Katastrophe oder jedenfalls einen sich ins Unvorhersehbare entziehenden Umbruch hin – alles auf dem Spiele steht, diese vitale Vermutung gewinnt an bestimmender Macht.

Elfte Stunde, das ist ein weitverbreitetes Zeitgefühl. Für den Christen aber bedeutet elfte Stunde etwas anderes: Gerufensein weg vom Leerlauf des Marktes der Möglichkeiten in die Verbindlichkeit der Nachfolge und des Dienstes (vgl. Mt 20,1–16). Gebrauchtsein für das Zeugnis, Angenommensein von dem, der uns nicht ins Wesenlose versinken lassen will. Begnadung als Herausforderung zum Dienst an allen. Entgegen allem anderen Anschein setzen sich doch der innere Rang und die Anziehung eines Lebens aus der eschatologischen Hoffnung, eines Lebens auch in der Daseinsgestalt der Evangelischen Räte von Armut, Gehorsam und Ehelogiskeit neu durch. Heiliges Leben heißt, sich der drängenden Stunde nicht entziehen, sondern von jener Hoffnung her anders leben, die sich nicht aus der Analyse der geschichtlichen „Uhrzeit“ errechnen läßt.

Augenblick, Werktag, elfte Stunde – jetzt, immer, bald: das ist die Zeitlichkeit heiligen Lebens heute, und in dieser Zeitlichkeit erkennen wir jene Zeit als gewendet und erlöst, die uns als die gegenwärtige anging bei der Frage nach den Schwierigkeiten und Ansatzpunkten für das Ideal der Heiligkeit in unserer Epoche.

Vielleicht bedürfen indessen die aufgezeigten Zeitmomente heiligen Lebens noch einer Ergänzung. Nicht nur das Jetzt, das sich unversehens als der neue Ruf eröffnet, nicht nur das Immer, die ausgehaltene Gleichförmigkeit mit der Zeit des Verlaufs, die verloren ist, wo sie nicht geteilt wird in der Liebe, mitgetragen in der demütigen Solidarität annehmenden Dienstes, nicht nur das Bald, das sich ausspannt auf Gottes lebendige, hereinstehende Zukunft, welche das zerreißende Geflecht der Vergänglichkeit durchwirkt – noch eine andere Zeit gehört hinzu: der Anfang. Anfang, der erinnert wird, Anfang, der erneuert wird, Anfang, dem die Treue gehalten wird. In unserer Epoche scheint der Faden der Zeit losgerissen von jenem Anfang der Herkunft, in welchem er festgemacht war. Erinnerungen sind ausgelöscht oder ihrer Geschichtsmacht entkleidet, indem sie nur nachwehen in träumerisch traurige, eitel verspielte oder rechthaberisch stilisierte Nostalgie. Und doch kann ohne Erinnerung, ohne Ursprung, ohne Gebundenheit an den Anfang der Faden sich nicht weiterspinnen ins Offene und sich weiterspannen zum Ziel. Vielleicht braucht diese Not unserer Zeit besonders die Heiligen, das heilige Leben, jenes, das beim Anfang bleibt und ihn in der Unschuld des Horchens auf den gegenwärtigen Ruf neu zum Leuchten bringt.

Es ist in der Tat merkwürdig: alle Gestalten heiligen Lebens im Christentum und auch in der Tradition Israels setzen, beim Jetzt ansetzend, zugleich an beim Anfänglichen, beim Ursprung. Immer sind es der Gott der Väter, der Gott, der Erde und Himmel geschaffen hat, und Jesus Christus, die sich in solchem heiligen Leben in ihrer Ursprungsmacht durchsetzen, den ersten Plan und Aufbruch im geschichtlichen Jetzt erneuern durch jene, die sich in diesem Jetzt rufen lassen. Und dieser Zug läßt sich heute nicht minder denn je beobachten. Das Typische: die Unschuld, die nicht weiß um Gegensätze zwischen Tradition und Modernität, konservativ oder progressiv oder jedenfalls an ihnen vorbei einfach anfängt.

Nichts verändert mehr und nichts bewahrt mehr als solche Unbefangenheit der Berufung. Unbekümmertes Anfangen beim Ursprung, gelassenes Annehmen des Erbes – gerade so wird Neuland betreten, gerade so findet der verblassende Urtext seine authentische Auslegung und die unverständliche Chiffre des Gewesenen ihre Lesbarkeit für die Vielen.