Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Zeugnis für die Erlösung: nicht ich, sondern Er

Als Erlöster ist der Priester gerufen, die Erlösung zu bezeugen. Dies gelingt aber nur, indem der Erlöser selber ins Spiel kommt. Denn nicht wir können die Welt erlösen, sondern nur Er kann es. Er hat uns die Gaben der Erlösung anvertraut, auf daß wir sie verwalten und austeilen. Aber in diesen Gaben hat Er sich selbst uns anvertraut. Und wir können nicht über ihn verfügen, sondern in uns will Er, muß Er größer sein als wir, auf daß wir ihn nicht verdecken, sondern Er durchscheint und aufscheint in uns. Wir können uns, ebensowenig wie Petrus nach dem reichen Fischfang von der Übermacht seines göttlichen Wirkens in den gesicherten Winkel unserer Menschlichkeit absetzen; die Spannung erkennend – „Herr, geh weg von mir, denn ich bin ein Sünder“ –, sind wir mit Petrus gerufen und befähigt, sie auszuhalten: Er ruft uns in die Gemeinschaft mit sich selbst und macht uns zu Menschenfischem (vgl. Lk 5,8 und 10). Er kommt nur als Erlöser ins Spiel, indem er in meinem Wirken größer ist als ich. Er ist größer als ich; ja ich bin, [169] damit Er größer ist als ich. Dieses sein Größersein geht in drei Richtungen: Er ist größer als ich in mir; Er ist größer als ich außer mir; Er ist größer als ich zwischen uns.

Er ist größer – in mir

Er ist größer als ich in mir. Diese Aussage gilt zunächst fiir den Priester ganz einfach, weil und sofern er Christ ist. „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20a). Was Paulus in diesem Satz ausdrückt, ist nicht bloß eine für ihn kennzeichnende, das „normale“ Maß überragende Christusverbundenheit, sondern das Maß und die Wirklichkeit jener seinshaften Verbundenheit, welche die Gnade dem Glaubenden, dem Gerechtfertigten schenkt. Der Herr nimmt Besitz von uns, er gibt uns Anteil an seinem Leben und so an sich selbst, so daß wir ihn in uns selber antreffen dürfen. Er kommt zu uns und nimmt Wohnung bei uns. Er gibt uns nicht nur etwas von sich, sondern sich selbst. Diese Wirklichkeit kann freilich überlagert, sie kann stillgelegt werden, auch dort, wo wir die Gnade Gottes nicht schlechterdings verlieren. Und umgekehrt kann dieses Wohnen des Herrn in uns wachsen, mächtig werden, unser Dasein bestimmen. So betrachtet, ist der zitierte Satz des Paulus also doch Ausdruck des „Besonderen“, das in ihm geworden ist, und dieses Besondere kommt in der zweiten Hälfte desselben Verses zum Vorschein: „Was ich in dieser Welt noch zu leben habe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20b). Darauf kommt es an: Der mächtiger ist als wir, wohnt in uns – lassen wir ihn auch mächtiger werden, als wir ohne ihn sind; leben wir nicht aus uns, nicht aus den Umständen, nicht aus der Reaktion auf das, was auf uns eindrängt, sondern aus ihm, der durch seinen Geist inwendiger in uns ist als unser Innerstes. [170] Dies hat für den Priester – wie für jeden Christen – durchaus seine ganz alltäglichen Konsequenzen. Hören wir auf seine Stimme? Kehren wir bei ihm in uns ein und fragen ihn, was er uns sagt? Pflegen wir in uns selbst jenen beständigen Umgang mit ihm, der uns aus der Einsamkeit heraushebt in eine leise, aber starke Gemeinschaft mit dem, der uns und alle liebt? Glauben wir ihm, daß er stärker ist als das, was uns anfordert und, auf uns* allein gestellt, so oft überfordert? Die Einübung des Lebens in Gottes, in Jesu Christi Gegenwart wird in einer Zeit der sich vermehrenden Ansprüche und Angebote von außen nur um so dringlicher. Er in mir ist stärker als ich: dieser Satz hat aber für den Priester noch eine andere Ebene. In der Priesterweihe greift der Herr nach ihm, um ihn zum wirksamen Zeichen seiner Gegenwart für die Kirche werden zu lassen. Er vertraut sein eigenes Ich-Sagen dem Priester an, auf daß er selber im Priester der Handelnde und Wirkende sei im sakramentalen Geschehen. Es ist des Herren Leib, wenn der Priester in der Eucharistiefeier spricht: „Das ist mein Leib.“ Es ist der Herr, der Sünden vergibt, wenn der Priester anhebt: „Ich spreche dich los...“ Im sakramentalen Wirken, aber auch in der vollmächtigen Verkündigung, die im Auftrag des Bischofs und in der Einheit mit der Kirche geschieht, handelt der Priester „in persona Christi“ (vgl. Lumen Gentium, 28). Dies erhebt ihn nicht, sondern macht ihn klein, leer, spart in ihm dem Herrn einen innersten Raum aus. Sosehr er sich ganz in den Herrn, der in ihm wirkt, hineinzugeben hat, so deutlich ist dieses Sich-Hineingeben eine Zurücknahme. Nirgendwo ist der Priester zu mehr Gehorsam, zu mehr Absehen von seinem bloß eigenen Stil und Mögen gerufen als dort, wo der Herr ihn für sich selbst, für seine wirkmächtige Gegenwart in der Kirche in Anspruch nimmt. Auf der anderen Seite wäre es auch gefährlich, wollte der Priester für sein ganzes Tun und Sein dieses Handeln in Christi Person beanspruchen. Wer [171] dies wollte, wer über die schmal gezogenen objektiven Grenzen hinaus als Priester das genannte „agere in persona Christi“ ausdehnen wollte, dem ginge jene bereits beschworene fundamentale Erfahrung des Petrus ab, der es schier nicht aushält, so nahe bei dem Heiligen, so eng verflochten mit ihm zu sein. Der Priester darf nicht den Herrn sozusagen haftbar machen für das, was er aus sich selber tut. Nun aber verändert diese Mitte priesterlichen Wirkens und Seins dieses im ganzen, dieses bis in die Peripherie hinein. Er in mir – um so mehr drängt es mich, daß er in allem mich bestimme, in mir aufscheine, mit seiner Liebe, mit seinem Erbarmen, mit seiner alle Grenzen annehmenden und verwandelnden Macht zum Zuge komme. Und ich darf dabei auf ihn selber schauen, auf ihn selber mich verlassen. Ich darf dem Krampf der bloß eigenen Anstrengung den Abschied geben und immer mehr mich einfach an vertrauen, abgeben an Ihn: „Was ich in dieser Welt zu leben habe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20f). Er ist in mir stärker als ich – dies bedeutet: Ich muß Mut haben zu seiner Vollmacht in mir, ich darf Mut haben zu meiner Ohnmacht, weil ich sie ihm überantworten, an ihn verschenken darf.

Er ist größer – außer mir

Es gehört zum inneren Gleichgewicht des Priesters, daß er, gerade er, sich stets auch dem gegenläufigen Satz stellt: Er ist stärker als ich außer mir und über mir. Sehr oft wird heute der Satz zitiert, der unter einem Christus geschrieben steht, welcher im Krieg seine beiden Hände verloren hat: „Ich habe keine anderen Hände als die deinen.“ Dieser Satz hat seinen guten Sinn, sofern er uns dessen gemahnt: Wenn wir unsere eigenen Hände ihm nicht [172] zur Verfügung stellen, entziehen wir ihm Strahlung und Wirkung, die er eben durch uns und in uns gewinnen will für die anderen. Es ist nicht gleichgültig, ob wir Zeugnis geben oder nicht. Es hängt von uns etwas ab für die Gegenwärtigkeit, Wirkmacht und Glaubwürdigkeit des Evangeliums, des Herrn selber in unserer Welt; ja es hängt etwas von uns ab für das Heil der anderen. Wenn ich jetzt das Wort nicht verkünde; jetzt die Hoffnung nicht vorlebe; jetzt die Liebe nicht in meiner Liebe bezeuge – dann ist Gott dort verdunkelt, wo er hell sein könnte; der Anruf verschwiegen, wo er verlauten könnte; das Angebot der Erlösung verdeckt, wo es sich mitteilen möchte. Und doch kann das zitierte Wort auch ein gefährliches Wort werden. Dann nämlich, wenn es mich in jenen Streß versetzt, als ob ich der Manager und Ingenieur des Heiles Gottes für die anderen wäre, als ob Gott nicht über die Grenzen hinweg, die ich in mir vorfinde, ja gerade in diesen Grenzen sich bezeugen und durchsetzen könnte. Du kannst mehr als ich, und wohin mein Wort und mein Wirken nie dringen, dorthin findest du Wege! Wer dies nicht weiß, wird seines Dienstes nie froh; ja er kann es nicht, weil es gar nicht sein Dienst ist, so zu tun, als ob der Herr selber sich zurückgezogen hätte aus dem Jetzt seiner unmittelbaren, lebendigen Präsenz bei seiner Kirche und bei unserer Welt. Sosehr uns der Herr in Anspruch nimmt, so falsch wäre jede Art eines „christologischen Deismus“. Sicherlich gibt es viele Situationen, in denen ich mir von Jesus sagen lassen muß, daß er meine Hände braucht und brauchen will. Aber kaum weniger häufig finde ich mich in gegenläufigen Situationen, in solchen, die mich zu ihm sagen lassen: „Herr, ich habe keine anderen Hände als die deinen.“ In einer Pastoral des ganzen und vorbehaltlosen Einsatzes geraten wir immer wieder an den Punkt, daß wir nicht weiterwissen, daß wir am Ende sind mit unserem Rat und unserem Können, daß wir auch an das [173] Geheimnis stoßen, welches der andere uns ist und bleibt. Der Herr allein kennt sein Herz. Er allein kann ihm sagen, was unser Wort, er allein kann ihm zeigen, was unsere Geste und auch unser Herz ihm nicht erschließen können. Und ob er verstanden hat, ob er ja gesagt hat – das Urteil ist nicht unsere, sondern des Herrn Sache. Schon manches Mal ist es mir begegnet, daß ich erst dort, wo ich den Nächsten verlieren, aus der Zugänglichkeit für mein Sagen und Wirken verlieren mußte, ihn wahrhaft „erreicht“ habe: durch Jesu Hände, durch Seinen Geist, die das vermögen, was ich nicht vermag. Er außer mir und über mir ist stärker als ich. Dies ist aber nicht nur eine Grenze meiner eigenen Aktivität, sondern gibt ihr eine neue, mit die wichtigste Dimension: die Fürbitte. Beten, konkret beten für die anderen, für jene, die uns um ihr Gebet bitten oder gerade nicht darum bitten, zählt zum Allerwichtigsten, was der Priester zu tun hat. Wir sollten es nicht bei einem ganz allgemeinen „Einschließen ins Gebet“ bewenden lassen, sondern sollten den Richtstrahler unserer Fürbitte recht ausdrücklich immer wieder auf alle die Menschen und alle die Situationen richten, die in unseren Sichtkreis und somit in unsere Verantwortung vor Gott gehören. Daß der Herr außer mir und über mir größer ist und mehr vermag als ich, dies ist für den Priester Quelle der menschlichen Gelassenheit und des geistlichen Einsatzes zugleich.

Er ist größer – zwischen uns

Er ist größer als ich, vermag mehr als ich, nicht nur in mir und außer mir, sondern auch und zumal: zwischen uns. So unabnehmbar die eigene Verantwortung eines jeden Seelsorgers angefordert ist, sowenig steht er doch nur für sich allein. Er ist nicht als Einzelgänger gesandt, sein Standort ist die Communio der Kirche. Er ist wesenhaft Ausdruck des [174] Herrn, der in seiner Kirche, inmitten seiner Kirche lebt. Wer dem Christus in sich selbst, in seiner eigenen Gabe des Geistes mehr zutraut als dem Herrn in den anderen, dem Herrn in der Kirche, der droht insgeheim sich selbst mehr zu lieben als wahrhaft den Herrn, somit aber auch sich selbst mehr ins Spiel zu bringen als ihn. Daß der Herr zwischen uns stärker und wichtiger ist als in mir allein, hat wiederum zwei Ebenen. Die erste haben wir bereits berührt: Der Priester ist nicht Ausdruck seiner eigenen pastoralen Konzeptionen und Inspirationen, sondern Ausdruck der Kirche. Sein Ort in der Kirche aber ist zunächst der im Presbyterium um den Bischof; er ist als Priester verankert in der Communio der Gesamtkirche und in der Missio der Apostel. Sich immer wieder über den Rand dessen, was er nur aus sich selber her sieht und will, in diesen Zusammenhang hineinzugeben, erfordert immer neu ein gläubiges Loslassen, einen Sprung. Doch hur wer zu solchem Loslassen und Sprung bereit ist, wird auch den gelassenen Mut finden, mit sich selbst auch das einzubringen, zu äußern, ohne Angst und Ärger anzubieten, was in ihm an Erkenntnis gewachsen, was ihm persönlich vom Geist gegeben ist. Nur Gaben des Geistes, die wir zu geben und wegzugeben bereit sind, tragen sein Signum. Dies ist gesagt mit ausdrücklichem Blick darauf, daß auch und besonders in der Kirche das Sagen wie das Hören nie Einbahnstraßen sein können. Wer in seinem Leitungsdienst dafür Sorge zu tragen hat, daß Jesus Christus als der einzige Herr der Kirche stets durchscheint und aufscheint, der wird mit Demut und Sorgfalt zugleich auf die vielgestaltigen Gaben seines Geistes und auf die in ihnen verlautende Stimme des Herrn achten. Der Herr zwischen uns ist größer und stärker als ich allein, ja sogar als der Herr in mir allein. Dieser Satz gemahnt nicht bloß an die „Kirchlichkeit“ des priesterlichen Dienstes, sofern diese Bezogenheit auf den Bischof und den Papst, auf [175] das Glaubenszeugnis und die Lebensordnung der Kirche als ganzer bedeutet. Kirchlichkeit schließt auch und zumal Zusammengehören aller, gegenseitige Liebe ein, die das Zeugnis für den Herrn, die der Raum für seine Gegenwart unter uns ist. Über die Kehre im Priesterbild weg von synchronisierter Einsamkeit zur Verwurzelung im Presbyterium und von da aus im vielfältigen Geflecht kirchlicher Communio haben wir bereits gesprochen. Wir müssen den Satz unterstreichen: Besser das weniger Perfekte in Einheit miteinander als das Perfektere im Alleingang. Wenn es wirklich der Herr ist, der mit seiner erlösenden Macht die Pastoral in der Kirche zu bestimmen hat, dann versteht sich dies von selbst. Seine Lebensart, sein heilendes und erlösendes Wirken ist nichts anderes als jene Liebe, die sich eins macht mit dem anderen. Wenn wir ihm mehr Zutrauen als uns, dann weist uns dies unabdingbar über den eigenen Horizont hinaus in die Gemeinschaft mit den anderen im Presbyterium, aber auch mit den Mitarbeitern und mit der Gemeinde. Gewiß hat jeder seine ihm eigene Gabe und Aufgabe dabei wahrzunehmen und einzubringen. Einheit nach dem Maß des dreifältigen Lebens Gottes (vgl. Joh 17) ist das Gegenteil von Nivellierung des Personalen, von Entschuldigung vor der eigenen Verantwortlichkeit, dem eigenen Auftrag. Aber diese Einheit ist genauso das Gegenteil einer Summe unverbundener einzelner mit ihren Meinungen und Aktivitäten oder allenfalls eines Kompromisses zwischen diesen. „Du in mir und ich in dir“ – dieser Grundrhythmus des Lebens zwischen Vater und Sohn, zwischen Jesus Christus und uns drängt danach, Grundrhythmus auch unseres Lebens miteinander zu sein. Und nur in diesem Rhythmus kommt die Melodie des Evangeliums zum Klingen, gelingt die Harmonie, der erlöste und erlösende Zusammenklang zwischen Gott und Mensch und zwischen den Menschen. Der Herr in mir – der Herr über und außer mir – der Herr zwischen uns: dies sind nicht nur Wege, wie der Herr selber [176] als der einzige Erlöser seiner Kirche und aller Menschen ins Spiel kommt; es sind die Punkte, an welchen auch das Erlösende der Erlösung selber sichtbar wird. Ich bin nicht mit mir allein gelassen, es gibt in mir den Durchbruch in eine Tiefe, aus der ich leben kann, in eine Quelle, die sich nie erschöpft. Der Herr in mir, dies ist die Erlösung meines Ich. Der Herr außer mir und über mir: Ich bin erlöst davon, die letzte Instanz zu sein, dort am Ende zu sein, wo es mit mir am Ende ist. Mein Überstieg geht nicht ins Leere, meine Tendenz zum je Größeren ist aufgehoben, erfüllt sich; meine Grenze wird zum Verweis, zum Schritt in den unendlichen Raum Gottes, der mich birgt und hält. Und das Miteinander ist erlöst, wir sind nicht eingespannt in den Block eines Wir, das bloß Über-Ich wäre – und wir sind auch nicht auseinandergespannt in jene Fremde, die jeden nur auf sich selbst zurückwürfe. Nein, wir haben eine Mitte, die in jeden einzelnen von uns hineinreicht und so gerade uns miteinander verbindet, uns zueinanderkommen und uns je wir selber sein läßt: der Herr selbst. Wenn der Priester in seinem Wirken den Erlöser selber wirken läßt, dann beglaubigt er Erlösung, dann lebt er als Erlöster.