Politik und Zeugnis
Zeugnis in der Politik: Wofür?
Die Aussage, die unser Nachdenken über Politik und Zeugnis anstieß und ihm die Spur wies, stammt aus dem Schreiben, in dem Paul VI., anschließend an die Bischofssynode von 1974, die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute reflektierte. Dieses Dokument – allgemein als eines der wichtigsten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil anerkannt – kommt nun von sich her zur Erkenntnis, daß die Bezeugung des Evangeliums und seine Verkündigung nicht angehen, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse und Zusammenhänge in den Blick zu nehmen und sie ins Licht des Evangeliums zu rücken. Die [321] Botschaft Jesu ist nach Auskunft von „Evangelii nuntiandi“ auch eine Botschaft, die gesellschaftliches, ja politisches Handeln betrifft, ohne daß freilich das Evangelium auf diese Dimensionen verkürzt werden dürfte.1 Das Evangelium läßt es nicht zu, den Menschen in seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit außer acht und ungerechte Verhältnisse auf sich selber beruhen zu lassen. Die handelnde Verantwortung für den Menschen erlaubt es nicht, bei einer pragmatischen Regelung der Verhältnisse für das Zusammenleben der Menschen stehenzubleiben und sein Geheimnis und seine Berufung nicht in den Blick zu nehmen, ohne deren Achtung der Mensch sich selber entfremdet würde. Wie also Evangelisierung nicht ganz sie selber wäre, wenn sie sich nicht den Konsequenzen aus ihrer Botschaft für den Menschen stellte, so wäre Politik nicht sie selber, wenn sie die Voraussetzungen des Menschseins nicht ernst nähme und einbezöge, die über ihr unmittelbares Handlungs- und Kompetenzfeld hinausweisen. Das Zeugnis, das Politik trägt, ist Zeugnis für jenen Menschen, der größer ist als er selbst. Aus solchem Zeugnis erwächst ebenso die Bescheidung der Politik, nicht das Heil des Menschen vermitteln zu können, wie der Auftrag der Politik, am Menschen und seinem je größeren Wesen Maß zu nehmen.
Das am 13. Dezember 1991 verabschiedete Schlußdokument „Ut testes“ der römischen Bischofssynode über Neuevangelisierung in Europa bringt den inhaltlich breiten Fluß der Aussagen von „Evangelii nuntiandi“ auf eine kurze und bedeutsame Formel. Sie ist imstande, ebenso das spezifisch Christliche des Zeugnisses zu fassen, das Politik und Kultur beseelen muß, wie aus diesem spezifisch Christlichen das gemeinsam Menschliche hervorzuheben, das zu gemeinsamer Besinnung und gemeinsamem Handeln für den Menschen befähigt.
Es scheint sinnvoll, einige Sätze wörtlich zu zitieren, die unter der Überschrift stehen: „Die Früchte des Evangeliums: Wahrheit, Freiheit und Gemeinschaft“.
„Christus, der menschgewordene Gott, ist selbst die Wahrheit (vgl. Joh 14,6), die uns freimacht (vgl. Joh 8,32) durch die Gabe des Heiligen Geistes (vgl. 2 Kor 3,17; Röm 5,5; Gal 4,6) und zur vollen Gemeinschaft mit Gott und unter den Menschen führt (vgl. Joh 17,21; 1 Joh 1,3). In der Tat ist das Suchen nach Freiheit, Wahrheit und Gemeinschaft das höchste, älteste und dauerhafteste Verlangen des europäischen Humanismus, welches auch in der gegenwärtigen Zeit weiterwirkt. Deswegen steht das Vorhaben einer Neuevangelisierung keineswegs dem Verlangen dieses Humanismus im Weg, vielmehr reinigt und kräftigt es ihn, da er – besonders in unserer Zeit – in der Gefahr steht, seine Identität und seine Zukunftshoffnung infolge irrationaler Einflüsse und eines Neuheidentums zu verlieren. Deshalb scheint die Frage nach der Verbindung von Freiheit und Wahrheit besonders wichtig zu sein, welche die moderne europäische Kultur sehr häufig als Gegensätze aufgefaßt hat, [322] während hingegen Freiheit und Wahrheit in einer solchen Weise aufeinanderhin geordnet sind, daß das eine ohne das andere nicht erreicht werden kann. Ebenfalls ist es von höchster Bedeutung, einen anderen Gegensatz zu überwinden, der übrigens mit dem vorhergehenden verbunden ist, nämlich von Freiheit und Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität, Freiheit und wechselseitiger Gemeinschaft. Denn die Person, deren höchste Würde in der Freiheit besteht, vollendet sich nicht dadurch, daß sie sich auf sich selbst zurückzieht, sondern sich schenkt“ (vgl. Lk 17,33).
Zeugnis, auch Zeugnis in der Politik, kann letztlich nichts anderes sein als Zeugnis für die Wahrheit. Es geht dabei nicht darum, mit politischen Mitteln Wahrheit anderen aufzuoktroyieren, sondern im Zeugnis Wahrheit sichtbar zu machen, so daß im Licht des Zeugnisses die Wahrheit, das Geheimnis des Menschen, plausibler wird und breiter und tiefer den Konsens aller finden kann, die Partner politischen Handelns sind.
So betrachtet, löst sich in der Tat der oft vermutete Gegensatz zwischen Wahrheit und Freiheit, als ob das Festhalten an Wahrheit und Eintreten für Wahrheit zur Einschränkung der Freiheit führte. Wahrheit kann nur in Freiheit als Wahrheit angenommen und wirksam werden. Freiheit geschieht aber in jenem Dialog, der ihre Grundlagen in der Wahrheit sichtbar macht und Freiheit selbst als integralen Teil, ja Mitte der Wahrheit vom Menschen anerkennt. Nur ein freier Zeuge ist Zeuge, jeder Zeuge aber ist so Zeuge für die Freiheit.
Wahrheit und Freiheit sind aber je nur sie selbst in Kommunikation, im Mitsein, in der Partnerschaft, die den anderen, seine Freiheit, sein Gewissen, seine unverrechenbare Würde, aber auch seine Rechte auf Leben und Entfaltung anerkennt und gewährleistet. Wiederum ist zu sehen: Zeugnis ist als solches, von seiner eigenen Phänomenalität her, Stiftung von Gemeinschaft, Vollzug von Gemeinschaft, geht es im Zeugnis doch um das Überspringen des Funkens der Wahrheit, um ihre freie Mitteilung an die anderen.
Unser Text hebt Wahrheit, Freiheit und Gemeinschaft2 in ihrer spannungsvollen Einheit als die Sache des geschichtlichen Zeugnisses der Christen heute ans Licht. Er gibt damit, wie es scheint, eine zunächst recht formale Antwort auf die Frage, wofür in der Politik Zeugnis erfolgen solle. Wahrheit, Freiheit und Gemeinschaft sind indessen im Verständnis unseres Textes mehr als Formalprinzipien, sie sind die Pole eines geschichtlich dramatischen Ringens um die Gestalt unserer Kultur und unseres Miteinander, sie sind die konkurrierenden Größen, die immer neu in die Synthese politischer Entscheidung einzubringen sind; sie sind die Kennzeichen für die innere Physiognomie des Zeugen und des Zeugnisses; sie sind die eine Sache, die nie fertig, sondern je neu zu definieren und zu erringen ist in der Spannung und Einheit zwischen Zeugnis und Politik.
Der „springende Punkt“ des zitierten Textes, der sich noch in eine konkrete [323] Entfaltung hinein fortsetzt, liegt allerdings in der Aussage über die höchste Würde der Person, die sich nicht dadurch vollendet, „daß sie sich auf sich selbst zurückzieht, sondern sich schenkt“. In dieser „trinitarischen“ Bestimmung von Personalität ist Zeugenschaft als solche beschrieben; wir können von Personalität als Zeugenschaft, von Zeugenschaft als Personalität sprechen.