In welchen Fragen sollen Kirche und Christen öffentlich sprechen?

Zielwerte aus der Perspektive der Kirche und des Menschen

Die generelle Antwort auf die Frage, worauf christliches Sprechen in gesellschaftspolitischen Problemen zielen müsse, liegt auf der Hand: Es geht um die Wahrung der Bundessituation und die darin implizierte Wahrung des Humanum. Diese Antwort beantwortet zugleich eine andere Frage: Die Frage nach der Legitimation kirchlichen und christlichen Sprechens in gesellschaftsrelevanten Fragen. Da nämlich die Kirche Sachwalterin des Bundes und darin des Menschen ist, hat sie zu sprechen, wenn die Grundstruktur des Menschen als Bundespartner Gottes zur Frage steht.

Aus der Perspektive der Kirche: Die inhaltlichen Grundbestimmungen des Auftrags der Kirche sind notwendigerweise auch die Zielwerte ihres Sprechens für den Menschen und die Welt.

Ehre Gottes: Die Kirche hat Gott nicht nur die Ehre „nach innen“ zu geben, sondern muß, ungeachtet aller unantastbaren Freiheit, die sie um Gottes willen dem Menschen und der Gesellschaft zuzugestehen hat, Sachwalterin der Ehre Gottes auch in der Gesellschaft sein – und dies gerade um des Menschen willen. Es seien einige Beispielfelder angeführt, die die Aktualität dieses Zielwertes dartun: Abdrängung der religiösen Dimension des Menschen in eine [197] bloß private Sphäre; direkte oder indirekte Propagierung atheistischer oder antichristlicher Anschauungen durch den Staat oder staatliche Institutionen; Vergötzung innerweltlicher Werte; Behinderung der Religionsfreiheit zuungunsten der Kirche, aber auch durch einen staatlichen Zwang zu Christentum und Kirche.

Heil des Menschen: Wiederum seien einige Beispiele genannt, die ein Sprechen der Kirche in die Gesellschaft hinein um dieses Zielwertes willen erfordern: Fixieren des Menschen auf ein bloßes „Funktionieren“, Verheizung des Menschen in einer Leistungs- und Konsumgesellschaft; Propagierung innerweltlicher Heilsideologien; Zerstörung und Aushöhlung menschlicher Hoffnung auf Sinn und Heil überhaupt.

Schöpfungsordnung: Wo immer die Grundwerte und Grundrechte des Menschen auf dem Spiel stehen, steht auch die Hinordnung des Menschen auf Gott und Gottes Interesse am Menschen auf dem Spiel. Statt hier Beispielfelder auszuführen, sei auf die nachfolgenden Leitwerte aus der Perspektive des Menschen verwiesen, die freilich nicht nur eine Explikation der Schöpfungsordnung, sondern auch eine Orientierung des Menschen auf die Ehre Gottes und das Heil einschließen.

Aus der Perspektive des Menschen: Wie schon angedeutet, sind Momente, welche die Bundessituation des Menschen aus der Perspektive des Menschen selbst artikulieren, inhaltsgleich mit denen, die sich aus der ekklesialen Perspektive zeigen. Jede dieser beiden Reihen genügt in sich als „Suchinstrument“ für die Gesichtspunkte, die christliches Sprechen zu gesellschaftlichen Fragen rechtfertigen oder verlangen. Die ekklesiale Perspektive geht aus vom Ansatz: Warum sollen hier gerade Kirche bzw. Christen sprechen? Die anthropologische Perspektive hingegen geht aus vom Ansatz: Inwiefern steht hier der Mensch auf dem Spiel? Wie nun konkretisieren sich die bereits bekannten Momente des Menschseins im Blick auf das Sprechen der Kirche und der Christen in die Gesellschaft?

Die vertikale Reihe (Transzendenz, Immanenz) und die horizontale Reihe (Freiheit, Gegebenheit, Gemeinschaft) genügten wiederum je in sich, um das Ganze aufzuschlüsseln. Gleichwohl werden im folgenden alle fünf Momente nacheinander abgehandelt, da die vertikale Reihe eine wichtige Lesehilfe für die horizontale Reihe [198] darstellt und das Ineinander beider Reihen ein griffigeres Raster für das Auffinden der neuralgischen Punkte bietet, die kirchliches bzw. christliches Sprechen erfordern.

Transzendenz: Die Identität des Menschseins erfordert seine Offenheit über sich hinaus. Gesellschaftlich ist diese gefährdet, wo Menschen exklusiv auf immanente Ziele und Funktionen hin verrechnet, wo eine Gesellschaft unter der Prämisse ihrer absoluten immanenten Vollendbarkeit geplant wird. Sowohl die bewußte wie die bloß faktische Versperrung der Transzendenz in der Gesellschaft erfordert kritische Stellungnahme der Kirche und der Christen.

Immanenz: Zum Menschsein gehört, philosophisch wie theologisch betrachtet, sein Selbststand, das Recht des Menschen, über die Welt zu verfügen, die Pflicht und die Chance, Welt zu gestalten. Sein Verhältnis zur Welt kann nicht abgesprengt werden von seinem Verhältnis zur Transzendenz. Die Welt kann nicht, christlich gesprochen, ausgeklammert werden aus dem Heilsbezug des Menschen. Dem widerspricht ein Konzept von Welt und Gesellschaft, das behauptet, es sei letztlich gleichgültig für die „eigentliche“, zumindest aber für die transzendente Dimension des Menschseins, wie die Verhältnisse der Welt und der Gesellschaft beschaffen seien; dem widerspricht auch eine Absolutsetzung bloßer Innerlichkeit, die heute wieder aktuell zu werden scheint.

Freiheit: Es gibt eine Innerlichkeit und Ursprünglichkeit des Menschen, die dem Zugriff von außen entzogen ist. Und doch kommt Freiheit nicht abstrakt vor, sondern ist eingebunden in mannigfache Gegebenheiten und vielfältige Beziehungen von Gemeinschaft. Ihnen gegenüber und zugleich für sie muß aber Freiheit in der Gesellschaft gewährleistet werden. Wie konkretisiert sich der Leitwert Freiheit angesichts solcher Verflechtung?

Ich bin frei durch Freiheit und zur Freiheit: Die Rechte des Individuums, die Möglichkeiten der Selbstbestimmung müssen gewahrt, sie können mir aber auch nicht abgenommen werden. Nivellierung der Individualität ist Zerstörung der Freiheit. Recht zur Freiheit ist allerdings auch Recht zur Ungleichheit; zwangshafte Egalisierung von Meinungen, Funktionen und Lebensgewohnheiten verstößt gegen die Freiheit.

Ich bin frei durch Gegebenheit und zur Gegebenheit: Ohne gesellschaftliche Garantie unverfügbarer Grundwerte und Grundrech- [199] te bräche Freiheit in sich zusammen. Die Freiheit bedarf ihres Schutzes und ist an sie gebunden, bloße Beliebigkeit untergräbt die Freiheit. Zugleich bedarf aber meine Freiheit des Raumes, mich zu entfalten, sie ist angewiesen auf die Gegebenheit der „Mittel“, durch die sie sich erhalten und entfalten kann (man denke an Bereiche wie Eigentum, Bildung).

Ich bin frei durch Gemeinschaft und zur Gemeinschaft: Vorgegebene Gemeinschaft (Familie, Volk) determiniert Freiheit und ermöglicht sie zugleich erst. Die Kommunikationsbahnen solcher Gemeinschaft müssen um der Freiheit willen gewährleistet bleiben. Ebenso muß Freiheit aber Gemeinschaft stiften und wählen können; eine verplante Gesellschaft, eine Gesellschaft ohne die Rechte der Kommunikation und Koalition untergrübe die Freiheit.

Gegebenheit: Ohne die fundamentale Gegebenheit des Daseins (gerade auch der Freiheit), der Welt (als des Inbegriffs der Gegebenheiten, auf die Selbstsein sich bezieht) und der Gesellschaft (als des Inbegriffs der mannigfachen Dimensionen von Gemeinschaft) wäre der Mensch nicht. Solche Gegebenheit aber ist Gegebenheit für die Freiheit, Gegebenheit somit in die antwortende Gestalt, und sie ist Gegebenheit, die nicht nur den einzelnen, sondern auch die Gemeinschaft selbst bestimmt. Gegebenheit muß auf Freiheit und Gemeinschaft hin gelesen werden, damit sie nicht als der bloße Zwang des Faktischen mißverstanden wird. Solche Gegebenheit ist Gabe, sie ist aber auch Festlegung; sie ist Spielraum, sie ist aber auch Grenze.

Die Gegebenheit meines Selbstseins (meiner Freiheit) ist mir gegeben und ist mir entzogen: Mein Leben, meine Menschenwürde und meine Menschenrechte stehen weder mir noch anderen zur beliebigen Disposition. Nur wenn die Grundgegebenheit von Leben und Menschenwürde in der Gesellschaft mit nichts anderem verrechnet werden, kann die Gesellschaft menschlich bleiben. Zur Gegebenheit des Selbstseins gehört auch meine Gegebenheit als leibhaftiges und geschlechtliches Wesen. Abstrahiert von diesem unverfügbaren Datum bin ich nicht ich selbst; auch Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit bedeuten Gestaltungsmöglichkeit und Bindung.

Die Gegebenheit der Welt ist mir gegeben und ist mir entzogen: Daraus resultieren Recht und Pflicht zur Weltgestaltung; das Wahren und das Nutzen der Möglichkeiten dieser Welt haben Maß zu [200] nehmen an der Angewiesenheit des Menschen, aller Menschen auf diese Welt. Zur Gegebenheit der Welt gehört für mich auch, daß ich an einer bestimmten, unvertauschbaren Stelle im raumzeitlichen Kontext von Welt und Geschichte vorkomme und von ihr her diesen Kontext zu übernehmen habe; meine Gestaltung von Welt und Geschichte muß diesem „responsorischen“ Charakter Rechnung tragen. Der Versuch einer vom Nullpunkt aus neu gemachten Welt ist der Versuch einer unmenschlichen Welt. Utopien, die die fundamentalen und die geschichtlichen Gegebenheiten nicht einbegreifen, werden ihrerseits weltlos.

Die Gegebenheit von Gesellschaft ist mir gegeben und ist mir entzogen: Mein Selbstsein ist mir nicht nur durch den Kontext von Menschheit, Nation, Familie vermittelt und wird nicht nur durch Dienste anderer, durch Dienste der Gesellschaft aufrechterhalten; darin ist mir auch die Gesellschaft selbst, ist der Kontext Menschheit, Nation, Familie, der Kontext einer geschichtlich konkreten Gesellschaft und ihrer Ordnung, ihrer Kultur und ihrer Sitte mitgegeben. Darum gehört zu den Grundgegebenheiten, von denen meine Welt- und Selbstgestaltung ausgehen, nach denen sie sich ausrichten muß, das Gemeinwohl, die Gesellschaftsordnung, das bestimmte Erbe der Geschichte, in die ich hineingeboren bin. Gerade hier wird deutlich, daß Gegebenheit nicht nur Fixierung ist, sondern Bindung bedeutet, welche Gestaltung allererst ermöglicht, ihr so aber zugleich auch Maß gibt.

Gemeinschaft: Daß der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist, daß Mitsein zum Menschsein gehört, bedeutet zum einen eine unaufgebbare Gegebenheit, es sagt zum anderen aber, daß die Bindung des Menschen an die anderen Bindung seiner Freiheit, daß Gemeinschaft also Gemeinschaft von Freien ist. Nur in dieser Polarität zwischen unaufgebbarer Freiheit und unaufhebbarer Gegebenheit tritt das spezifisch menschliche Profil von Gemeinschaft gegenüber sozialistischen oder liberalistischen Verkürzungen hervor.

Gemeinschaft wächst aus Freiheit und stiftet Freiheit: Gemeinschaft darf nicht zum kollektiven Subjekt werden, das die Subjektivität ihrer Glieder aufhebt. Nur der Rückbezug auf die Ursprünglichkeit der Freiheit des einzelnen erhält Gemeinschaft lebendig; nur das Sichgeben der einzelnen in die Gesellschaft gewährt hinwiederum die Freiheit der einzelnen in ihr. Dieser Polarität muß eine Ge- [201] sellschaftsordnung Rechnung tragen: Gesellschaft wächst aus der Freiheit der einzelnen und hat sich an ihr zu orientieren, und doch ist Gesellschaft mehr als die Summe oder das geregelte Nebeneinander isolierter oder parzellierter Freiheiten.

Gemeinschaft wächst aus Gegebenheit und stiftet Gegebenheit: Naturale und geschichtliche Zusammenhänge, Angewiesensein aufeinander, gemeinsame Funktion und gemeinsames Schicksal strukturieren menschliches Miteinander. Sie können von der menschlichen Freiheit nicht einfach übersprungen werden. Kein einzelner kann sich um seiner Freiheit willen ausnehmen vom Verbund der Gesellschaft. Was immer er ist, was immer er tut, er wird, auch in seiner Freiheit, geprägt von der Gesellschaft und prägt selbst Gesellschaft. Daraus ergibt sich eine doppelte Haftung: der Gesellschaft für den einzelnen, des einzelnen für die Gesellschaft.

Gemeinschaft wächst aus Gemeinschaft und stiftet Gemeinschaft: Sowenig Gesellschaft ein abstraktes und anonymes Es ist, sosehr sie aus der Beziehung der einzelnen zueinander und der einzelnen zum Ganzen lebt, so sehr ist sie doch selbst ein Ganzes, ist sie Träger, „Subjekt“ ihrer eigenen Geschichte. Gerade darum ist das Geschick der Gesellschaft die Sache ihrer Glieder, ist gesellschaftliche und politische Verantwortung integraler Bestandteil menschlicher Freiheit, sind gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen Strukturen und Entwicklungen des Menschseins selbst.

Die entfalteten Momente geben nicht schon fertige Lösungen her, sondern sind ein „Suchinstrument“, um zu erkennen, wo Fragen und Situationen auftauchen, die kirchliches bzw. christliches Sprechen in der Gesellschaft erfordern. Sie helfen freilich zugleich, die Richtung anzuvisieren, in welcher die Lösung liegt; diese selbst muß durch eine genauere Analyse der Frage bzw. der Situation und durch die Integration der verschiedenen Momente im einzelnen erhoben werden.