Theologie als Nachfolge
Zugang zur Trinität aus der Nachfolge
Von welcher Wirklichkeit sprechen wir, wenn wir von Gott sprechen? Die Antwort Bonaventuras, die wir aus seinem Zugang zur Wirklichkeit Gottes erhoben haben, ist noch nicht eingeholt, indem wir vom Sein selbst als reiner Wirklichkeit und unendlicher Fülle zugleich gesprochen haben. Aber auch das Verständnis von Sein ist damit noch nicht eingeholt. Bei wohl keinem anderen Denker der großen christlichen Tradition sind in diesem Ausmaß das Gottes- und auch das Seinsverständnis zentriert in der Trinität wie bei Bonaventura. Es kann uns nun im folgenden nicht darum gehen, Bonaventuras hochbedeutsame Trinitätsspekulation in sich auch nur einigermaßen vollständig zu entfalten. Uns leitet vielmehr die Frage: Wie und warum gibt Bonaventura auf die Frage nach Gott und auf die Frage nach dem Sinn und der Struktur von Sein die Antwort: Trinität? Es legte sich nun nahe, diese Antwort anhand der knappen und [150] tiefen Gedankenführung im 6. Kapitel des Itinerarium nachzuzeichnen. Das dort Gesagte ist indessen einbefaßt und noch schärfer auf unser Interesse zugespitzt in der Collatio XI des Hexaemeron. Ehe wir ihr entlanggehen und von ihr aus einige Perspektiven ins Innere bonaventuranischen Trinitätsdenkens anreißen, versuchen wir, uns durch eine Vorüberlegung den Zugang zu diesem Text und seinen Stellenwert im Kontext reflektierter Nachfolge zu erschließen. Wir sind bereits einer eigentümlichen Leiter von Begriffen begegnet, die Bonaventura in der genannten Collatio zum gliedernden Einstieg ins Verständnis des Geheimnisses Gottes aufrichtet, und die zugleich die innere Steigerung seiner Logik und seines Seinsverständnisses anzeigt: „… unser durch den Glauben erhobenes Verstehen sagt, Gott sei dreifaltig und eins aufgrund von vier Bestimmungen im göttlichen Sein, und zwar aufgrund seiner Eigenart als Vollkommenheit, aufgrund seiner Eigenart als vollkommener Hervorbringung, hervorbringender Verströmung, verströmender Liebe; und das eine folgt aus dem anderen.“1
Solche Stufung ist in sich stimmig. Sein ist vollkommenes Sein, wenn es nicht nur an sich gebunden, sondern wenn es über sich hinauszustrahlen und -zugehen fähig ist; höchstes über sich Hinausgehen aber ist jenes Sich-Verschenken, das in einem Seligkeit, Erfüllung ist – und eben dies ist Liebe. Dennoch umschließt solche Stufung einen Umschlagspunkt – oder gar zwei. Daß Vollkommenheit, „Spitze“, höchste Höhe sich als Bewegung über sich hinaus, von sich weg, somit aber von der Spitze herab auslegt, daß der Aufstieg gerade dort seinem Scheitel begegnet, wo dieser sich im Absteigen bewährt: dies ist bereits in der Explikation von Vollkommenheit als Produktivität mitgesetzt. Und doch lassen sich Produktivität und Verströmung noch als „Können“, als Selbstbestätigung der „Spitze“ verstehen, sie legen das Paradox aus, das in Vollkommenheit selbst beschlossen ist: Insichstehen vollendet sich als Mächtigkeit, aus sich zu gehen. Wenn dann aber Liebe – und Bonaventuras Durchführung liest Liebe eben auf ein vollkommenes Sich-Verschenken hin, das nicht mehr sich sucht2 – wiederum die Exegese von Produktivität und Verströmung ist, [151] dann wird ein Unselbstverständliches, Unableitbares, über „bloße“ Produktivität Hinausgehendes zum Ziel- und Integrationspunkt des Ganzen, der auch bereits den Anfang, die „Vollkommenheit“ als das Woraufhin des Aufstiegs, in einen anderen, neuen Kontext rückt. Die eine Stufenleiter verbindet unterschiedliche Ansätze; die oberste Stufe ist nur dann die Konsequenz der unteren, wenn die untere bereits von der oberen her gesehen und gesetzt wird. Somit radikalisiert sich in unserer Leiter ein durch die Bestimmung der Vollkommenheit markiertes Seinsdenken hin zu einem theologischen Seinsverständnis aus der Mitte sich verschenkender Liebe; sich verschenkende Liebe legt sich ihrerseits aus in Seinsdenken, das sie in einem wahrt und wandelt.
Was passiert, wenn ein Denken eine solche Kehre und in dieser Kehre doch einen konsequenten Weg durchmißt? Aus welcher Situation erwächst dieses Denken? Man könnte sich mit der Antwort begnügen: aus der Begegnung antiken, vor allem platonisch-neuplatonischen Gedankengutes mit der christlichen Botschaft. Aber warum begegnen sich beide, und woher kommt es zu einer solchen Neues zeugenden, sich ins Eigene abhebenden Gestalt wie bei Bonaventura? Ein über den geschichtlichen Anlaß hinausweisendes, im franziskanischen Ursprung aber gedecktes Modell: die Situation der Nachfolge. Wer Christus, wer seinem Ruf nachfolgt, dem geht es – man könnte sagen wie dem reichen Jüngling, der den Meister fragt – um die Vollkommenheit. Er ist bereits aufgebrochen über sich selbst hinaus, schaut sich bereits um nach dem, wofür sich Leben lohnt, was der Sinn, die Spitze, die Erfüllung des eigenen Daseins und nicht nur des eigenen ist. Es geht ihm ums Ganze, ums Höchste: ums Vollkommene. Und dann trifft er nicht etwa auf eine Idee, die ihn einlädt, sie mit- und weiterzudenken, damit sie ihm erfüllendes Ziel seiner Suche sei und damit sie in seinem Leben Gestalt werde; er trifft vielmehr auf einen, der ihm entgegenkommt, er trifft in Jesus Christus auf die Kunde, daß Gott selbst ihm entgegenkommt, daß Gott sich herabläßt und einläßt in diese Welt: Herrschaft Gottes. Da bleibt Gott die Spitze, da bleibt Gott das Oben, der Vollkommene. Ja, einer ist allein gut: Gott. Aber diese Spitze, die sich darin [152] als solche bewährt, daß sie aufruft, alles Andere zu lassen, läßt sich ihrerseits hinein in die unvollkommene Wirklichkeit der Welt und des Menschen. Herrschaft Gottes ist höchste Höhe Gottes in seinem überraschenden, unerrechenbaren Zukommen, in seinem Einbruch nach unten. Und so kann es gar sein, daß einer, der nicht aufsteigen wollte, der gar nicht zum Vollkommenen aufblickte, vom Ruf mitgenommen wird und erst, indem er ihm folgt, entdeckt, daß insgeheim auch er schon je zum Höchsten, zur Spitze hin tendiert. Der Abstieg der Liebe integriert, ja entbindet erst den Aufstieg, Vollkommenheit und Liebe gehören zusammen in Gott. Um was es mir geht in meinem Sein, wohin alles Sein strebt, das ist mehr, ist größer als nur das Sein selbst, als nur jene Vollkommenheit, über die hinaus ich keine größere mehr denken kann. Wenn dieses Größere, wenn die Liebe, wenn der Gott, der Liebe ist, sich gibt, „steigert“ sich auch Sein und Gottsein nochmals. Sein ist Herkunft aus der Liebe und hat in der Liebe seine Zukunft, Liebe legt sich aus ins Sein und ruft je schon zu sich im Sein. Solches ist im Nachfolgeruf Jesu nicht nur Botschaft, sondern Ereignis, zu dem der Ruf, zu dem der Rufende selbst hinzugehört. In ihm, in Jesus geht Gott der sich reflektierenden Nachfolge auf als der Sich-Gebende, als jener, zu dessen Sich-Geben und zu dessen Einheit, zu dessen Vollkommenheit und Sich-Äußern, ja Sich-Entäußern dieser Jesus hinzugehört. Nachfolge stößt, sich reflektierend, in ihrer eigenen Konsequenz durch zu Gott als dem Einen und Dreifaltigen.