Die Zukunft der Zukunft

Zukunft und Jesus Christus

An dieser Stelle öffnet sich unsere Frage nach der Zukunft der Zukunft für die Frage nach Jesus Christus. Wer ist er? Nur einer, der es besser geschafft hat, den Weg zu Gott uns vorauszugehen? Ein Vorbild, ein Wegbereiter, einer, der zeigt, wie das geht? Ganz gewiß ist er dies alles, aber wäre er nur dies, so wäre in ihm nicht Gottes ganzes Heil; er wäre es nicht so, wie das Neue Testament und aus ihm die Überlieferung der Kirche es von ihm bezeugen.

Er ist freilich auch nicht nur eine Erscheinung, die Erscheinung Gottes, eine unterstrichene Zusage Jahwes, immer da zu sein für uns. Er ist ganz auf unserer Seite, aber in ihm ist der auf unserer Seite, der auf der Seite Gottes ist, Gott selber ist in ihm mit uns. Er ist der homooúsios patri und er ist der homooúsios hemîn, er ist gleichwesentlich dem Vater und gleichwesentlich uns selbst. In ihm trägt Gott auf unserer Seite die Antwort auf Gott mit, in ihm trägt Gott auf unserer Seite die Übermacht Gottes mit. Und wir, wirklich wir sind in ihm. Er ist einer von uns, aber so, daß wir alle in ihm sind, daß wir alle angenommen sind in ihm, denn in ihm hat Gott selber angenommen, einer wie wir zu sein, und darin uns alle angenommen, mit uns allen kommuniziert.

Was das heißt, was uns das sagt, dieses doppelte homooúsios, gilt es unverkürzt, aber neu zu lesen aus der Umdrehung des Gottesbildes, die grundsätzlich in der Offenbarung Jahwes geschehen ist und die doch noch nicht bis in ihre letzte Konsequenz hinein angekommen ist in unserem aus anderen epochalen Erfahrungen genährten Denken.

Homooúsios patri: Jesus Christus ist dem Vater gleichwesentlich, das heißt: er ist gleichwesentlich dem, von dem alle Zukunft kommt. Er ist von Ewigkeit her – aber seine Präexistenz heißt, daß in ihm der Vater als der Zukünftige sich schon je ganz über sich hinaus spricht – und in der Menschwerdung spricht er sich, sich selber als grenzenlose Zukunft uns zu. Er spricht sich, seine Zukunft ohne Grenze und Ende hinein in unser Dasein Augenblick um Augenblick. Gottes ganze Zukunft, seine grenzenlose Zuwendung ist in ihm endgültig und umfassend da, aber sie bleibt in ihm Zuwendung, Zukunft, sie bleibt in ihm das je Neue, je Überraschende, sie ist je neu Ereignis. Jesus Christus ist als der Ewige der Kommende. Die fundamentale Perspektive heißt nicht mehr: Der gekommen ist, wird wiederkommen, sondern sie heißt: Der kommen wird, ist gekommen. Dies schließt die erstgenannte Perspektive selbstverständlich mit ein. Die metaphysische Ontologie, die in unserer traditionellen Theologie sich ausspricht, wird keineswegs falsch. Aber alles, was in ihr gesagt wird, wirklich alles, kann und soll gerettet werden in dieser Umkehrung, in diesem Denken von der Zukunft her. Gottes ganze Zukunft ist mir in Jesus Christus zugeeignet – aber als Zukunft. Ich habe nicht auf mehr und anderes zu warten als auf Jesus Christus. Aber indem ich nur auf ihn warte, ist gerade nicht alles gelaufen, sondern alles geborgen. Geborgen in jene unabschließbare Offenheit des Ereignisses, der Zuwendung, der Zukunft, die ganz und gar Liebe, aber gerade darum immer neu, immer Ursprung, immer Überraschung ist.

Wir konnten nicht davon sprechen, was homooúsios patri heißt, ohne schon von dem anderen zu sprechen: homooúsios hemîn. Besinnen wir uns zunächst nochmals auf uns selbst, auf unsere Position angesichts der Zeit: Radikal betrachtet, wissen wir von keinem Augenblick, ob er der letzte ist, ob noch ein anderer folgt. Warum geht es weiter und nicht nicht weiter? Wir können alle Vorsorgen und Vorbedingungen für die Zukunft treffen, daß sie stattfindet, liegt keineswegs an uns. Und umgekehrt: Wenn alles noch so festgelegt ist von seinen Prämissen her, wenn der Spielraum der Zukunft noch so eingeengt ist, es bleibt die Erwartung, ob nicht doch das Andere, Neue, Unversehene eintrifft. Daß Zeit kommt und daß Zeit so kommt, das liegt nicht an uns [44] allein, liegt also im allerletzten nicht an uns. Und doch liegt daran, was wir sind, wie wir sind, wer wir sind. Homooúsios hemîn ist die Kehrseite des homooúsios patri, und in beider Synthesis eröffnet sich das Geheimnis Christi: Gott gibt nicht nur je den nächsten Augenblick und sagt darin seine Nähe, sein Dasein uns zu – Gott gibt uns den Augenblick, in dem er selber ganz und gar ist, er wendet sich so uns zu, daß in seiner Gabe er selber bei uns ist, er selber auf unserer Seite ist. Der Vater sendet den Sohn. Und dieser Sohn auf unserer Seite, er macht genau dieselben Erfahrungen wie einer von uns. Er lebt aus der Ungewißheit, aus der Angst, aus dem Warten, aus dem Zuendegehen. Wir selber sind in Jesus Christus Zukunft Gottes. Unser eigenes Leben, unser aller Leben läßt Gott an sich heran und in sich hineinkommen, und darin wird dieses unser Leben und unser Sterben verwandelt. Leben und Sterben sind geliebt von Gott, Leben und Sterben werden uns zurückgegeben als die Möglichkeit zu lieben, Leben und Sterben münden in das, was nicht sterben kann, in die Liebe, die alles neu, ein für allemal neu macht.

„Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm 8,32). In diesem Satz scheint gesagt, daß alles schon entschieden, alles schon „gelaufen ist“, weil Jesus Christus gekommen ist. Genauer besehen, ist in dieser Aussage von der Endgültigkeit der Zuwendung Gottes gerade die unabschließbare Zukunft uns zugesagt: Er wird uns alles geben. „Denn ich bin gewiß: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe, noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38–39). Die Zukunftsmacht von allem, was schon ist, ist relativiert, aber es gibt eine Zukunftsmacht, die nicht mehr zu relativieren ist: Gottes Liebe, die in Jesus Christus ist. Der gleichwesentlich ist der Quelle aller Zukunft, hat sich, hat die Quelle aller Zukunft hineingegeben in unser Wesen, in unsere Ohnmacht, aus uns selber Zukunft zu haben. Homooúsios patri – gleichwesentlich der Zukunft, aus der alle Zukunft entspringt; homooúsios hemîn – gleichwesentlich der Gegenwart, die die unsere ist: Ohnmacht, Zukunft zu „machen“, aber Macht, Zukunft zu empfangen. So wird Gott nicht zur verfügbaren, sich erschöpfenden Präsenz, der Mensch nicht zum verlängerten Perfekt. Gegenwart und Zukunft schenken sich einander und wahren so einander, ungetrennt und unvermischt.

Sind wir mit unseren theologischen Überlegungen nicht weit weg geraten von jenen Fragen und Problemen, die uns das Thema Zukunft der Zukunft aufdrängt? Im Grunde: nein. Wenn wir das Geheimnis Jesu Christi unter dem Vorzeichen Zukunft zu lesen versuchen, so läßt sich von hier aus auch der fällige Beitrag der Christen bestimmen, damit Zukunft nicht zukunftslos werde. Weil der gekommen ist, der kommen wird, brauchen wir nicht in Panik zu verfallen vor dem möglichen Vergehen. Es darf alles kommen, weil er gekommen ist, der kommen wird. Es darf weniger werden mit unseren Kräften, weniger werden mit den Zukunftschancen der Welt. Es darf sogar alles vergehen. Aber wir werden deswegen nicht dieser Welt unser Interesse entziehen und sie auf die Seite schieben, sondern wir werden allererst freigesetzt, nun dieser Welt zu begegnen. Weil sie auch vergehen darf, kann Neues in ihr kommen und können wir und müssen wir uns bereithalten für das Neue, das in ihr kommt. Statt der letzten Befangenheit eine freie Unbefangenheit. Es ist merkwürdig, wer nur auf die machbaren und berechenbaren Chancen für die Zukunft dieser Welt setzt, der droht zu resignieren: Wohin soll der Fortschritt noch laufen, wird er nicht leerlaufen? Erschöpft sich nicht die Möglichkeit der Regeneration des Lebens ? Droht nicht die Erstarrung im Kreisel der vorgeprägten Möglichkeiten? Wenn ich aber Ausschau halte auf eine Zukunft, die durch kein Zuendegehen zerstört werden kann, wenn ich auf den zulebe, der kommen wird und als der Kommende gekommen ist, dann gewinne ich [45] jene Freiheit, deren ich bedarf, um einen Lebensstil, um einen Umgang mit der Welt zu entwickeln, die auch innergeschichtlich Zukunft erschließen. Ich kann die Welt gelassen so gebrauchen, als gebrauchte ich sie nicht (1 Kor 7,33), – dann aber verbrauche ich die Welt nicht zuende, sondern eröffne ihr Zukunft.

Und weil derjenige gekommen ist, der kommen wird, weil er uns zur Seite geht, können auch wir zusammenkommen. Er ist nicht nur Gottes Weg zu uns und unser Weg zu Gott, er ist auch unser Weg zueinander. Die Christologie des Papstes Johannes Paul II. setzt bei der Konzilsaussage an, daß Jesus Christus gewissermaßen das Schicksal eines jeden Menschen zu seinem eigenen gemacht habe (vgl. Gaudium et Spes 22). In ihm kommt Gott auf jeden einzelnen Menschen zu und kommt jeder einzelne Mensch in Gott hinein, ist er in ihm aufgehoben und angenommen. So wird in Jesus Christus nicht nur Gott meine Zukunft, sondern auch du, mein Nächster, jeder Mensch werden meine Zukunft. Wir sind befreit von der letzten Angst um uns selber, befreit zueinander. Deine Zukunft und die meine sind nicht mehr voneinander zu trennen.

Die Zukunft hat eine Zukunft, wo wir uns von der Angst um die Zukunft, wo wir uns von der Angst um uns selber lösen und einem Anruf folgen, der uns gelassen und unbeirrt, aber erwartungsvoll einen Weg gehen läßt. Nachfolge, Nachfolge Jesu hat in unserer Situation keine bloß binnenkirchliche Bedeutung. Sie kann ein Modell des Lebens zeigen, das über allen Leerlauf ins Endlose, über allen Absturz ins Bodenlose, über allen Kreislauf im Getto unserer Systeme hinausruft. So ist es vielleicht erlaubt, an das Ende ein biblisches Bild zu setzen, das der Zukunft Zukunft verheißt und uns auf einen Weg in die Zukunft weist: Petrus, der ausfährt zum reichen Fischfang (Lk 5,1–11). Er hat die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Er ist mit der nüchternen Erkenntnis ans Ufer zurückgekehrt, daß jetzt nichts zu machen sei. Jemand, der kein Experte ist, der aber spricht wie einer, der Macht hat, sagt zu ihm: Fahr hinaus auf den See! Und Petrus antwortet ihm: Weil du es sagst, auf dein Wort hin!