Was heißt Glaubenssituation

Zur Konzeption der Umfragen und des Forschungsberichtes

Der vorstehende Beitrag versuchte, den Grundriß einer Analyse der Glaubenssituation idealtypisch und umfassend zu entwerfen. Was ihrem Ansatz gemäß die Umfragen zur Gemeinsamen Synode und der Forschungsbericht „Zwischen Kirche und [40] Gesellschaft“ leisten, kann nur einen Teil dieses Programms einlösen. Dies müßte indessen von jeder empirischen Untersuchung gelten. Glaubenssituation ist nicht nur durch die quantitativ nie einholbare Fülle der Daten, die zu ihr gehören und die sich, als Daten von Glauben, ihrer Natur nach nie „repräsentieren“ lassen, einer „Totalerfassung“ entzogen; zur Situation gehört auch ihr Wandel. Selbst während der Erhebung, ja durch sie, wird die Situation verändert, und damit wird das Ergebnis ihrer Erhebung bereits überholt. Situationserhebungen können nur effektiv werden, wenn sie fragmentarisch sind. Ihr fragmentarischer Charakter und der Verweis des jeweiligen Fragmentes ins zugehörige Ganze müssen jedoch bewußt bleiben, ja reflektiert werden. Es soll in der folgenden, abschließenden Betrachtung dargetan werden, daß und wie die Konzeption der Umfragen zur Synode und ihrer Aufarbeitung im Forschungsbericht sich dem Rahmen und den Prinzipien einpassen, die in diesem Beitrag entworfen wurden. Wenn man den Fragebogen der allgemeinen Umfrage, aber auch den des Interviews der Repräsentativbefragung studiert, dürften vor allem drei Eigentümlichkeiten auffallen:

  1. Es werden kaum Entscheidungsfragen gestellt. Die Meinung zu zentralen Inhalten christlichen Glaubens und christlicher Sittenlehre, zu aktuellen Themen der kirchlichen Diskussion, zu Fakten und Tendenzen kirchlicher Entwicklung werden nicht direkt erfragt.

  2. Es geht primär um die Institution Kirche, um ihr Bild und um das Verhältnis des einzelnen zu ihr.

  3. Es geht zugleich ums persönliche Befinden und Wollen des Befragten, um seine Lebenswelt und um seine Ziele sowie um die Instrumentalität des Glaubens und der Kirche für das Mögen, Meinen und Streben des einzelnen. Dieser unmittelbar gewonnene Eindruck wird bestätigt durch die Anlage des Forschungsberichtes. Zumindest die drei ersten Kapitel verfolgen die genannte Zielrichtung.

Inwiefern entspricht nun eine solche Anlage der Situationserhebung den Erfordernissen, die sich uns aus dem Begriff der Glaubenssituation ergeben haben? Zuerst müssen die „negativen“ Elemente erklärt werden. Warum wird nicht das Bekenntnis des Glaubens, sondern werden das Problembewußtsein, die Erwartenshaltung, der als solcher bezeichnete persönliche Eindruck erfragt (im Fragebogen der allgemeinen, schriftlichen Umfrage haben z. B. außer der Statistik nur die Fragen 13 und 14 direkten Charakter)?1 Warum wird Glaube ins Institutionelle hinein objektiviert? Warum tritt die instrumentale Bedeutung von Glaube und Kirche in den Vordergrund? Diese Schwerpunktverlagerung der „eigentlichen“ Glaubensinhalte [41] und -vollzüge entweder ins Subjektive der eigenen Perspektive oder in die Objektivationen hinein trägt dem Rechnung, daß die Situation der Umfrage nicht die des Bekenntnisses sein kann. Dies gilt auch unabhängig von dem vor allem für die schriftliche Umfrage gravierenden Umstand, daß die Umfrage im Auftrag der Bischöfe erfolgte; ihrer Glaubensautorität aber wäre es unangemessen gewesen, wenn sie – auch nur in der Form der Fragen – die Grunddaten des Glaubens und des kirchlichen Lebens scheinbar zur Disposition gestellt hätten. Glaube ist als solcher nicht direkt meßbar, er hat eine „situationsenthobene“ Komponente, die sich nicht total objektivieren läßt, zumal die Reproduktion des Glaubens im Verstehen nicht immer voll dem Glaubensvollzug und dem intendierten Glaubensinhalt gerecht wird. Doch gerade wie Glaube verstanden, wo Glaubens¬fragen als Problem empfunden werden, muß bei der Situationserhebung interessieren.

Glaube ist aber nicht nur situationsenthoben, sondern zugleich situationsbedingt. Zu seinen Bedingungen gehört vor allem die Weise, wie der einzelne den Glauben institutionell dargestellt und dargeboten findet, und das Verhältnis, in dem sein persönliches Lebensinteresse zum wirklichen oder vermeintlichen Interesse des Glaubens und der Kirche steht. Nur solche Beziehungsfelder, nicht aber punktuelle Angaben allein erhellen die Glaubenssituation und ihr Verhältnis zur Gesamtsituation. Welches ist nun aber „positiv“ die Konzeption der Umfragen? Die innere Architektur beider Umfragen ist durch vier Fragerichtungen bezeichnet:

  1. Wie und worum geht es dem Befragten – und was hat damit der Glaube zu tun?

  2. Wie verhalten sich religiöse Praxis und Überzeugung zueinander?

  3. Wie werden Daten und Entwicklungen des Glaubens und der Kirche rezipiert und beurteilt?

  4. Was wird von der Institution Kirche, was wird vom Glauben und von der ge-schichtlichen Entwicklung bezüglich Glaube und Kirche erwartet?

Alle diese Fragen gehen auf eine Differentialanalyse hin. Wie gezeigt, kann nur auf diese Weise Glaubenssituation sichtbar werden. Die Basisfrage, die latent den Einstieg in die anderen vermittelt, ist die erste: Die Lebenssituation ist der Ort, an dem auch der Glaube seine Situation, seine Dynamik und sein Profil für den einzelnen erhält. In dieser Lebenssituation und in dem Interesse, das sich in ihr für den Glauben eröffnet oder verschließt, wurzeln Verhalten, Beurteilungen und Erwartungen bezüglich des Glaubens und der Kirche, die in den anderen drei Fragefeldern erhoben werden. Ein gesamter Kontext zu allen vier Fragen ist die Frage nach der Mitwelt und Umwelt, in welcher der einzelne innesteht; dies macht nicht zuletzt den großen statistischen Teil der Fragebogen relevant, reicht aber über die Statistik hinaus, sofern es, gerade in der Repräsentativumfrage, auch um die Differentialanalyse zwischen eigener Glaubensüberzeugung und -praxis und der des jeweils „Nächsten“ geht. Jedes der genannten Fragefelder ist in sich differentialanalytisch angelegt; jedes ist aber auch auf die Spannungen in den jeweils anderen Feldern hin zu untersuchen. Gerade darum bemüht sich der Forschungsbericht. Das Ergebnis der Umfragen ist somit also keineswegs additiv aus der Summe der Einzelergebnisse [42] zu gewinnen; sowohl das Konzept der Fragebogen wie auch das Ergebnis der Umfragen liegt im strengen Sinn „zwischen den Zeilen“. Die Einzelfragen beider Fragebogen lassen sich ausnahmslos in die genannten vier Fragefelder einordnen; einige Fragen legen die Zuordnung zu mehreren Fragefeldern zugleich nahe.

1. Fragefeld: Repräsentativumfrage (RU) 1–4, (5), 6–8, 9, 24, 30, 50, 54, 56; Allgemeine Umfrage (AU) 1.

2. Fragefeld: a) Religiöse Bindung, religiöses Interesse: RU 5, 28, 31, 41, 42, 47, 48, 51, (52), 55, Statistik 22; AU 7, 12, 13 b) Religiöse Überzeugung: RU 5, 32, 33, 49, 51 c) Religiöse Praxis: RU 15, 25, 26, 39,43,45, 52, Statistik 18–20, 22; AU Statistik 24, 25.

3. Fragefeld: RU 11, 12, 13, (16), 17, 21, (23), 27, (29), 36–38, 46, 53; AU 2, 4, 6, 8, 10, 11.

4. Fragefeld: RU 10, 14, 16, 18–20, 22, 23, 29, 34, 35, 40, 44; AU 3, 5, 9, 14.

Diese Aufgliederung vermag zu zeigen, daß die Umfragen ein Konzept haben und nicht nur das Nebeneinander von Einzelfragen sind, deren Ergebnis den Befragenden zweckgebunden interessiert. Der Bezug zu unserer Reflexion über Glaubenssituation liegt auf der Hand: Die eingangs (vgl. I) aufgerissenen Fragefelder, die als die wesentlichen für eine Analyse der Glaubenssituation bezeichnet wurden, werden abgedeckt; daß Analyse der Glaubenssituation Differentialanalyse sein muß, wird, zumindest im Ansatz, eingelöst; daß Glaube, theologisch gesprochen, situationsenthoben, situationsverflochten und situationsbedingt ist, findet Berücksichtigung. Daß Glaube auch situationsbedingend ist, tritt allerdings direkt nicht zutage; diese methodische Beschränkung ist indessen legitim. Und es ist auch legitim, daß die führende Perspektive der Umfragen der einzelne in seinem Lebensverständnis und in seinen Lebensbedingungen ist, sofern diese für seine Einstellung zu Christentum und Kirche relevant sind und sofern für sie seine Einstellung zu Christentum und Kirche relevant ist. Der einzelne verliert dabei freilich notgedrungen sein „einmaliges“ Profil, er ist Fragen unterworfen, die an alle gerichtet und von allen in formaler Verallgemeinerung beantwortet werden können. Gerade darin aber spiegelt sich ein Grundzug unserer faktischen Glaubenssituation: einerseits ist der Glaube in unserer modernen Massengesellschaft immer mehr Sache des einzel¬nen, andererseits begegnet der einzelne der Sache des Glaubens gerade unter den verallgemeinernden und nivellierenden Bedingungen dieser Massengesellschaft.


  1. Ein Beispiel für diese Fragerichtung: Frage 5 der Interviewbefragung erhebt nicht Glaubensüberzeugungen, sondern stellt fest, über welche zentralen Glaubensfragen der Interviewpartner sich gerne mit einem, der sich gut auskennt, unterhalten würde. Diese Frage ist zu korrelieren mit der Frage 49, die Auskunft darüber gibt, auf welchen Gebieten der Befragte Schwierigkeiten mit der Auffassung der Kirche hat, wobei „Glaubensfragen“ eine der Antwortvorgaben ist. Auf solche Weise wird zwar nicht die Zustimmung zum einzelnen Glaubenssatz apodiktisch deutlich oder graduell meßbar, doch wird so unbefangener, da ohne den Druck des Bekennenmüssens, offenbar, wo neuralgische Punkte im Glaubensverständnis und in der Glaubenszustimmung liegen. ↩︎