Wegmarken der Einheit
Zusammenschau und Ausschau
Sind die ausgeführten Gedanken nicht anstrengend und kompliziert im Vergleich zu jener im Grunde einfachen, wenn auch alles fordernden Wirklichkeit, die uns Jesus zusagt: seine Gegenwart in unserer Mitte, wo wir eins sind in seinem Namen? Wo uns die Leidenschaft für ihn in unserer Mitte ergreift und wo er in unserer Mitte unser Herz brennen läßt, da verbrennen in der Tat die bloßen Reflexionen. Und doch sind sie vielleicht „Zündschnur“, damit das Feuer der Leidenschaft für ihn entbrennen kann. Blicken wir daher nochmals zurück auf den durchmessenen Weg des Gedankens, damit er ein Weg zur Wirklichkeit, ein Weg zum Leben mit Jesus in unserer Mitte sei.
In unserer Welt lebt ein eigentümliches Drängen nach der Selbstverwirklichung einerseits und nach der umfassenden Einheit und Ganzheit andererseits. Wie kann ich mich finden, so daß ich wirklich drinnen bin in dem, was ich finde, was ich tue, erfahre, erreiche? Mächte der Entfremdung ziehen mich weg von mir. Und wie kann ich zugleich das finden, dem dienen, worin und woraus die Welt leben kann? Wie stoße ich über die Isolation hinaus in jene Gemeinschaft vor, die mich zugleich ganz enthält und ganz öffnet und die zudem nicht ein [70] verschlossener kleiner Kreis ist, sondern wahrhaft menschheitliche Dimension hat? Diese immer wieder von Johannes Paul II. aufgegriffene, philosophisch, geistlich, auf Kirche und Gesellschaft hin durchdachte Frage weist hin auf Jesus Christus, in dem jeder Mensch sich selber und jeder den anderen, das Ganze findet. Er in unserer Mitte führt ebenso mich erst zu meiner Identität wie alle zu der ihren und zur umfassenden Gemeinschaft. Christen, denen es um den Menschen und um die Menschheit geht, sind daher gerufen, alles einzusetzen, damit, wo immer sie einander begegnen, ja wo immer Menschen miteinander zu tun haben, Raum geschaffen werde für Jesus in unserer Mitte.
Aber wie geschieht das? Eben auf dem Weg, den Jesus selbst uns vorausgeht: auf dem Weg seines Paschageheimnisses. Der österliche Herr tritt nur in unsere Mitte, wenn wir mit ihm den Weg zu Ostern gehen. Gehorsam dem Willen des Vaters allein, nichts anderes suchend als ihn – so bereit zum je ersten Schritt auch auf unseren Nächsten hin, darin aber gerade ihn erwartend, ja tragend und übernehmend, Spannung und Zwiespalt aushaltend nach dem Maß des am Kreuz ausgespannten und verlassenen Herrn – bis eben Ostern und in Ostern der Herr in unserer Mitte sich schenkt. Dieser Weg zu Ostern ist Weg der Liebe, die alles gibt und alles empfängt, die mich stets als ersten lieben läßt, die mich alle lieben läßt, die mich immer lieben läßt, die mich mehr und mehr Liebe sein läßt, mein Sein Liebe sein läßt.
Solcher Weg der Liebe, der uns als Christen zueinander führt, so daß der Herr in unserer Mitte leben kann, ist zugleich der Weg Mariens, der Gottesgebärerin. Reine Hingabe an Gottes Wirken allein, reine Rücknahme aller Ansprüche und Erwartungen in die Einförmigkeit mit dem Willen Gottes läßt sie die Mitwirkende seines Wirkens in der Geschichte werden. Der ganz von Gott kommt, der Mensch gewordene Sohn Gottes, kommt zugleich aus ihr. So will je neu dort, wo Chri- [71] sten sich begegnen, der Herr selber in ihrer Mitte sein. Er kommt von sich aus, aus seiner Hoheit, aus der Sendung des Vaters und der Kraft des Geistes. Aber er kommt aus uns, daraus, daß in uns und zwischen uns alle Schranken fallen, die uns trennen und so ihn ausschließen. So werden wir gemeinsam der Schoß, in dem aus Heiligem Geist der Herr Gestalt gewinnt und aus dem er hervortritt in unsere Welt. Das Geheimnis unserer österlichen Einheit mit dem Willen des Vaters und miteinander und das Geheimnis Mariens sind dasselbe, das Geheimnis jener Einmütigkeit, jenes symphonein, dem die wirkmächtige und geschichtsmächtige Gegenwart des Herrn verheißen ist.