Das Neue ist älter

Zwei Nachbemerkungen

a) Die Seinsbedeutung der Kirche

Wie kamen wir dazu, die Notae der Kirche als Transzendentalien jenes Seins zu verstehen, das aus der Liebe her älter und neuer zugleich erscheint? In Jesus Christus ist unser Gottes- und Seinsverständnis umgewendet. Dann liegt es nahe, daß dieses neue Gottes- und Seinsverständnis sich dort auf das Verstehen von allem, was geschieht und ist, hin auslegt, wo die communio und missio Christi alles erreichen und einbeziehen will, was ist und geschieht: eben in der Kirche. Dies ist gerade keine Engführung des Seins- und Weltverständnisses, sondern umgekehrt eine Wendung im Verständnis von Kirche. Sie ist nur sie selber, wo sie in ihrem Innersten und Eigensten auch das Äußerste und Fremdeste, alles, was ist, unverfälscht und unverkürzt zu erreichen, zu verstehen, zu erschließen vermag. Kirche kann sich nicht auf ein begrenztes Feld von Kirchlichkeit zurückziehen und sich von Welt und Geschichte unbetroffen erklären. Kirche kann auch nicht alles, was in der Welt ist, für sich vereinnahmen, sondern sie muß das, was je ist, als hermeneutischen Schlüssel für ihre eigene Sendung und als Aufgabe für ihre eigene communio verstehen. Sie muß sich selber im ausgeführten Sinne als heilig, eins, katholisch und apostolisch verstehen und öffnen – und sie wird es nur können, wenn sie vor allem marianisch ist. Diesem Marianischen eignet eine törichte Treue zum Ursprung, zum ihr Übergebenen und Überlieferten – aber in dieser törichten Treue wächst eine unerhörte Offenheit, in welcher Kirche zugleich zur Stätte des göttlichen Gottes, des menschlichen Menschen und der weltlichen Welt wird. Das ungetrennte und unvermischte Zusammenspiel von Gott, Welt und Mensch wird offen als Berufung der Kirche. Sie vereinnahmt nichts als christlich und kirchlich, was es nicht ist – und sie läßt sich doch von allem, wie immer es ist, angehen. Denn ihr Herr hat alles das sich angehen lassen, alles das in sich hinein- [93] genommen – und mit ihm die Mutter, in welcher das Wort Fleisch wurde, die Mutter, die unter dem Kreuze stand und sein Leiden begleitete.

b) Vollendung im Gegensatz

Das Innerste und Früheste treibt zum Äußersten und Letzten. Quae te vicit clementia, ut nostra ferres crimina? Die Frage steht an: Wie tritt das Äußerste und Letzte, wie treten Dunkel, Tod, Leid, Schuld, Gottverlassenheit in den Horizont der neuen Transzendentalienlehre?

Die neue Wahrheit ist die Heiligkeit von allem in der Heiligkeit der Liebe. Diese Liebe erweist sich als unverletzlich, als heilig, indem sie sich verletzen läßt bis zum Tod. Der Sohn Gottes, der keine Sünde kennt, wird für uns zur „Sünde“ (vgl. 2 Kor 5,21). Indem er alles Dunkel, alle Furchtbarkeit, allen Zwiespalt, alle Schuld und Gottesferne auf sich lädt, wird die ganze Wahrheit des Widergöttlichen offenbar, wird sie gerichtet. Aber in der Liebe, die richtet, geschieht Versöhnung, geschieht neuer Anfang. Nichts, keine Schrecklichkeit und kein Abgrund können begegnen, die nicht schon durchschritten und durchlitten wären von der Liebe Gottes selbst in Jesus Christus. Alles wird so zum Zeichen und Sakrament seiner Liebe, alles zu ihrem Antlitz. Nicht im Sinn einer dialektischen Verflüchtigung oder spekulativen oder auch spirituellen Verharmlosung. Im Gegenteil. Liebe ist kein Erlösungsautomatismus, Liebe ist Freiheit, die Freiheit ruft. Aber die sich entfremdete und von sich verbrauchte Freiheit wird als geliebte wieder aufgerichtet. In Annahme und Übernahme des eigenen Todes und der eigenen Schuld geschieht heiligende Gemeinschaft mit dem, der zuvor den Todverfallenen und Schuldigen samt seinem Tod und seiner Schuld angenommen und übernommen hat. Es gibt nichts, dem nicht das Mal der Liebe und ihrer Heiligkeit eingebrannt wäre.

Der neue Name des Seins ist Einheit, communio. Das Übel und das Böse wurde in der klassischen Ontologie erkannt als das Defizit an Sein, als die Abwesenheit des Seins in dem, was ist. Das Negative zeigt sich schon hier als Mangel der Einheit, als Aufhebung der Einheit in den Gegensatz zwischen Sein und Nichtsein in Sein selber. Der schlechthin Eine und Einzige wird durch seine liebende Menschwerdung und sein erlösendes Leiden der alles Einende, und er wird es, indem er in den Gegensatz hineingeht, den Gegensatz in sich nimmt, Schrei der Trennung, Riß, Wunde wird. So reißt er die Scheidewand zwischen Gott und den Menschen und zugleich zwischen den Menschen selber ein (vgl. Eph 2,14–18). Der ausgehaltene, in sich selbst hineingenommene Gegensatz wird Stätte der Restitution, ja Stiftung der umfassenden Einheit und somit des neuen Seins.

Die Einheit des Einzelnen hat ihren Schwerpunkt im Ganzen, sie wird gewährt vom Ganzen und gewährt das Ganze. Der das Ganze umfaßt, in dem alles geschaffen ist, er wird ein einzelner, um das Ganze heimzuholen und jedem seinen neuen [94] Platz im Ganzen, ja die Kraft zu geben, fürs Ganze da zu sein. Diese Katholizität des Seins, diese Einholung des Ganzen kennt schlechterdings keine Grenze: Descendit ad inferos, abgestiegen zu der Hölle. Die Reglosigkeit und Erstarrung, die Fahrt ins „nicht mehr“, der Karsamstag ist die äußerste Marke dieser Katholizität und somit der neuen Einheit, in welcher Gott alles in allem ist. Wiederum: nicht im Sinne einer spekulativen Aufhebung des Gegensatzes, sondern in dem der Heimsuchung, der Begegnung und der Begleitung, deren die Liebe bis zum äußersten als ihres Äußersten fähig ist.

Gutsein als Gesendetsein, als Apostolizität: Die Sendung des Sohnes geht bis in die Erstarrung und Reglosigkeit des toten Leibes und des weggegebenen Geistes. Nicht mehr wirken zu können, wird zur äußersten Wirksamkeit, die dorthin langt, wohin kein Wirken mehr reicht. Das Gutsein, das solche Sendung eröffnet, gibt auch noch dem Absurden und Sinnlosen seinen Sinn. Was immer übernommen und angenommen wird, erhält Sinn, Fruchtbarkeit, wird bedeutsam für.... Im Hinweggehen von sich, im Hingehen zum anderen, im Annehmen und Weitergeben wird auch das Widersinnige zur Fülle, zum Inhalt, zum Geschenk. Auch die Leere noch wird zur res, zum Realen, zur Fülle.

Schönheit besteht nicht mehr darin, seine Form in sich selber zu haben, sondern reine Gefügigkeit, reine Aufnahmebereitschaft zu sein für die Form der Liebe. Das Marianische und seine Schönheit vollenden sich unter dem Kreuz, in der Pietà. Wo Maria alles, was sie empfangen hat, weggibt, wo sich ihre Leere zum zweiten Mal vollbringt und radikal wird, gerade dort erreichen ihre Jungfräulichkeit und Mütterlichkeit, ihre reine Verfügbarkeit für Gott und ihre Mütterlichkeit für alle Menschen den Höhepunkt. In ihr ist alles und zumal alles Schwache, Unscheinbare, Ohnmächtige zur Schönheit der Vollendung gerufen.

Vom sechsten Transcendentale, vom Etwas, vom Realen haben wir am Rande gehandelt; noch nicht erwähnt ist die siebte klassische Bestimmung, das aliud quid, das Andere. Alles, was ist, ist unterschieden, hebt sich in sich selber ab. Dieses aliud darf uns als jene Bestimmung gelten, die, auf ihren göttlichen Ursprung hin gelesen, am ehesten seine Heiligkeit andeutet und so auf das Geheimnis auch eines jeden Seienden weist. Vollendung im Gegensatz, Steigerung der Liebe bis zum äußersten, indem sie zum Andern ihrer selbst geht und sich diesem Anderen anverwandelt, um so es sich anzuverwandeln: dieser letzte Schritt unserer Transzendentalienlehre holt auch diese Bestimmung ein. In seinem eigenen Geheimnis bewährt sich alles, geht alles auf als das, was es ist, am Kreuz.

Um des Vaters willen, um des Geistes willen läßt sich nicht einfachhin sagen: Omne ens est crucifixum. Aber auch Vater und Geist, ja sie im anfänglichsten und fundamentalen Sinn haben mit dem Kreuz zu tun. Es ist der Ort, an dem die Heiligkeit der göttlichen Liebe, ihre Wahrheit, ihre Weite, ihre Fülle, ihre Abgründigkeit, ihre Herrlichkeit sich erfüllen. Alles ist geeint im Kreuzesgeschehen und zu sich selbst erlöst, freigegeben an sich. Aber dieses je andere Geheimnis eines [95] jeden, was ist und geschieht, alle Geheimnisse der Welt und des Himmels kommen hier zum Zusammenklang, werden hier zur Symphonie. Nicht zum Unisono, sondern eben: zur Symphonie, zu jener Einheit, die alles verbindet und zugleich wahrt.