Theologie als Nachfolge

Zwei Wege der Synthese: Bonaventura und Thomas

So „geschlossen“ das mittelalterliche Denksystem uns heute gängigerweise gilt, so rasch wir geneigt sind, es durch den Vorrang des Glaubens vor dem Wissen zu typisieren, so dramatisch ist, näher besehen, doch das Ringen um das Verhältnis von Glaube und Wissen bei den großen Gestalten und Bewegungen des Mittelalters. Besonders eindrucksvoll und trotz allem Abstand aufschlußreich für uns heute ist hier die unterschiedliche Position eines Thomas und eines Bonaventura. Beiden steht außer Zweifel, daß wahrer Glaube und wahres Wissen einander nicht widerstreiten können; beiden ist die letzte und ganze Autorität des Offenbarungswortes, beiden aber auch die grundsätzliche Offenheit des menschlichen Geistes auf den Gott hin, der dieses Wort spricht, unerschütterliche Grundlage. Und doch gibt es in dieser einen Landschaft gegenläufige Ansätze für den Weg der Synthese. Um es vereinfachend zu skizzieren: Thomas sucht den Ausgang bei einer möglichst breiten Basis, die auch Zustimmung bei solchen ermöglicht, die nicht von der Voraussetzung des christlichen Glaubens ausgehen. Die Frage, die ihn bestimmt: Was und wieviel erreicht menschliche Vernunft aus sich selbst, in ihrem Ansatz bei dem, was ihr unmittelbar als Erfahrungs- und Bewährungsfeld ge- [21] geben ist? Der zeitgeschichtliche Hintergrund: die Neuentdeckung des bislang in den Schatten Platos gedrängten Aristoteles, vornehmlich durch den Kontakt mit den arabischen, mohammedanischen Philosophen. Der „Empirismus“ des Aristoteles, der Ausgang seiner Spekulation von der sinnlichen Erfahrung, sein „Weg von unten“ eröffnete neue Möglichkeiten der fides quaerens intellectum, d. h. jener Bewegung des Glaubens, die sich im Anderen ihrer selbst, im menschlichen Fragen und Denken, einzuholen sucht. Dabei fällt freilich ein wichtiger Vorentscheid: Als eigentlicher Gegenstand, als unmittelbares Woraufhin menschlichen Erkennens gilt das Was der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die Grundrichtung menschlichen Erkennens ist die Zuwendung zum sinnenhaft Erscheinenden.1 Eine solche „Priorität“ dessen, was nicht Gott ist, im genetischen Aufbau menschlicher Erkenntnis bringt jedoch keinen Bruch in die angestrebte Synthese. Die eigenständige und ursprüngliche Rolle menschlichen Erkennens und welthafter Wirklichkeit vermindert nicht, sondern steigert im Sinne Thomas’ die göttliche Eigenständigkeit und Ursprünglichkeit; denn Gottes Rang als erste Ursache bewährt sich gerade darin, daß er aus sich Wirkendes, daß er Zweit-ursachen schaffen kann.2 Im Gang der Erkenntnis wird Gott, dem gezeichneten Ansatz entsprechend, von unten her, von der Schöpfung her philosophisch vermittelt, durch den Rekurs auf die Struktur der geschöpflichen Wirklichkeit, die sich selbst nicht tragen und erklären kann.3 Bei diesem „induktiven“ Philosophieren wird indessen der Sprung nicht zugekleistert, der das vom Menschen aus Erkennbare und das aus der Positivität des sich zeigenden Gottes her „Offenbare“ voneinander abhebt.

Insgesamt ließe sich Thomas ein Denker des Zugangs nennen: in der Unmittelbarkeit des Denkens zu sich und der Welt deckt er Spuren auf, die Gott als seinen je schon mächtigen Ursprung und sein je schon anziehendes Ziel sichtbar machen; er zeigt so, daß menschliches Denken gerade dort zu sich selber kommt, wo es zu dem kommt, was größer und früher ist als es selbst und was ihm auch mehr zu schenken vermag als nur das im Denken und in der Welt Zugängliche. Die Freisetzung von Welt und Denken [22] versteht Thomas als die Voraus-setzung dafür, daß Gott selbst in die Welt und ins Denken hinein aufgehen kann.4

Bonaventura ließe sich Thomas gegenüber als Denker des Ausgangs bezeichnen. Gewiß thematisiert er den Aufstieg der Seele zu Gott, ihren Wanderweg durch die Welt, aber aller Weg zu Gott ist ihm Explikation einer voranfänglichen Anwesenheit Gottes, eine Antwort auf seine Initiative. Die Zuwendung zu Aristoteles zieht er in den Verdacht, die Unbedingtheit und Souveränität des sich von sich her schenkenden Gottes zu verschatten. Eine Unmittelbarkeit zu den geschaffenen Dingen erscheint ihm von Anfang an als sekundär gegenüber der Unmittelbarkeit jener Beziehung, in der das Denken sich mit sich und der Welt beschenkt und so über sich und die Welt hinausgewiesen findet. Gott selbst wird so zugleich zum Selbstverständlichsten, weil das Selbstverständnis Tragenden, und zum Unselbstverständlichsten, weil eben sein Anfang, seine Präsenz Geschenk und keineswegs Resultat aus anderen Prämissen ist. Das hat zur Folge, daß die Unausweichlichkeit, mit Gott anzufangen, fürs Denken zugleich Gefährdung bedeutet; denn sein Anfangen ist Antwort, und Antwort selbst ist mehr als sicherbares, herstellbares Resultat. Dann aber steht Wissenschaft, d. h. erkennende Aufarbeitung der Welt und des Erkennens im Erkennen aus dessen eigenen Potenzen, in der Krisis, entweder sich zu gewinnen, indem das Erkennen sich verschenkt, oder sich zu verlieren, indem es sich absolut setzt. Dennoch schließt auch diese Position nicht die Synthesis zwischen Glauben und Wissen aus, sondern vertieft sie auf eine eigentümliche Weise. Im Vorblick auf einläßlichere Analyse gesagt: Im Kontext des Glaubens, im Kontext der Reflexion eigener Endlichkeit erhalten die Wissenschaften bei Bonaventura einen neuen Stellenwert. Sie sind, wie Welthaftes überhaupt, Stufen eines alles einbegreifenden Weges zu Gott, der den Weg Gottes zu uns wieder- und einholt, und auf diesem Weg sind sie je anders, je besonders die Spiegelung des einen alles zusammenbindenden Grundrhythmus des Seins und des Denkens als des Ausgangs aus Gott und der Rückkehr zu Gott. Zwar scheint aufs erste der Weg des Thomas uns Heutigen [23] gangbarer als jener des Bonaventura, der beim nur raschen Hinblick den Eindruck eines Welt und Wissenschaft vereinnahmenden Integralismus und einer engen binnenchristlichen Geschlossenheit erwecken mag. Bei näherem Eingehen läßt sich jedoch aus Bonaventura ein tragfähiger Hinweis für unsere eigene Situation erheben: Wer seinen Glauben vollzieht und wer seine Wissenschaft betreibt, tut zwar je etwas anderes, aber er muß deshalb nicht in zwei Subjekte zerfallen; es gibt einen die unterschiedlichen Sach- und Lebensbereiche verbindenden Grundvollzug des Lebens und der Existenz, eine alles integrierende und doch die Differenzen keineswegs verwischende Grundstruktur. Die Bedeutung des bonaventuranischen Modells bewährt sich nicht nur in dem, was es für einen Vollzug denkender und existentieller Einheit in der Vielheit von Rollen und Bereichen hergibt, sondern auch, ja eher noch näherliegend, in seiner Anwendung auf das Verhältnis von Philosophie und Theologie. Thomas ist das vielleicht größte Beispiel in der christlichen Geistesgeschichte, wie eine aus ihrem eigenen Ursprung gewachsene Philosophie fürs Selbstverständnis des Glaubens, für seine hermeneutische Selbstvermittlung beansprucht werden kann. Bonaventura, der auf viel geläufiges Gut aus platonischen und zumal augustinischen Wurzeln zurückgreift, entwickelt nicht als eigenes Gegenmodell die Adaption einer anderen, nicht-aristotelischen Philosophie für den Aufbau einer neuen Theologie. Man hat ihn sogar seiner Grundtendenz nach als aphilosophisch, genauer: als bloßen Anwalt theologischer Eigengesetzlichkeit gegenüber der Philosophie betrachten wollen. Diese Deutung hat aber nur ihr relatives Recht; denn die Reflexion Bonaventuras aufs Eigene des Glaubens und der Theologie und entsprechend auf die Grenzen einer beim Denken allein ansetzenden Philosophie ist selbst ein philosophischer Entwurf, ist selbst der Aufgang einer Struktur des Denkens, das mit seinen eigenen Grenzen auch sein Wesen und seinen Gang in den Blick bekommt. Die Theologie hat in unserer Zeit für ihre lange währende exklusive Ehe mit der scholastischen Philosophie sozusagen den „Nichtigkeitsprozeß“ angestrengt – man kann bereits wieder un- [24] befangener im Raum der Theologie mit den nicht mehr absolut kanonisierten Gedanken und Gestalten der Scholastik umgehen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Suche nach anderen Philosophien und Philosophemen, deren sich die Theologie bedienen kann, um ihr Eigenes zu artikulieren, zeigt noch keine rechte Kontur; vielerlei Wellen und Richtungen lösen einander ab oder durchkreuzen sich. Alles in allem macht sich eher eine Skepsis gegenüber der Philosophie in der Theologie geltend, der freilich auf der anderen Seite eine Reduktion des spezifisch Theologischen aufs Anthropologische, Gesellschaftliche, Geschichtliche entgegensteht – damit aber feiert, freilich auf erhebliche Kosten der Theologie, Philosophie in der Theologie ihr heimliches oder offenbares Comeback. Beide Positionen: aphilosophische Theologie in sich und in der Rücknahme aufs Philosophische um sich selbst gebrachte Theologie rufen nach einer neuen, redlichen Synthese zwischen Philosophie und Theologie. Wiederum gibt Bonaventura da uns Heutigen zu denken: Kann nicht die Reflexion der Theologie auf ihr Eigenes und Anderes auch philosophische Horizonte aufreißen, Perspektiven des Denkens eröffnen, die von nicht nur theologischem Interesse sind? Hat nicht Philosophie es notwendig, wieder zu ihrer Pflicht und Möglichkeit gebracht zu werden, alles in dem sein und sich zeigen zu lassen, was es ist, ohne dem, was sich zeigen darf, die Grenzen einer thetischen Willkür apriori vorzuschreiben?


  1. Vgl. Summa theologica I, 84, 7; vgl. in III de anima 12, 772; De anima 15 corp.; I. Sent. 3, 4, 3 corp.; S. th. I, 85, 1 ad, 3 u. ö. ↩︎

  2. Vgl. Summa contra Gentiles I, 15 und II, 42 und 45. ↩︎

  3. Vgl. S. th. I, 2, 3. ↩︎

  4. Gratia supponit naturam et perficit et elevat eam vgl. II. Sent. 9, 9 ad 2; S. th. I, 1, 8 ad 2, ebd. I, 2, 2 ad 1 u. ö. ↩︎