Theologie als Nachfolge
Zwei Wesen von Integration
Thomas und Bonaventura artikulieren nicht nur verschiedene Grundmöglichkeiten der Synthesis zwischen Glaube und Wissen. Noch in einem weiteren Sinn ist auf je andere Weise ihr Denktypus gekennzeichnet durch eine besondere Kraft der Synthese. Thomas ist Aristoteliker; aber nicht einmal seine philosophische Position wäre mit dieser Klassifizierung abgegolten. Sosehr seine Nachgeschichte uns daran gewöhnt hat, ihn als Meister der Schule zu sehen, der für jede Frage eine aus differenzierten Gesichtspunkten zusammenwachsende, in sich griffige und stimmige Antwort be- [25] reithält, sowenig verläuft sein Denken doch nur linear. Innerhalb des mittelalterlichen Aristotelismus vertritt Thomas seine durchaus eigene Position;1 darüber hinaus gehört zu seinem geistigen Profil aber auch das kommentierende Eingehen auf den anderen, den neuplatonischen Traditionsstrom damals bekannter Philosophiegeschichte.2 Faszinierend ist an Thomas die Fähigkeit, aus verschiedenen Positionen Wesentliches für die eigene fruchtbar zu machen, und beinahe noch mehr das Vermögen, sich auf verschiedene Gangarten und Ansätze des Denkens so einzupendeln, daß dabei das Eigene seines Partners zur Geltung, zugleich aber im Gespräch zu einer Integration in einem je weiteren Horizont kommt. Darin ist Thomas bis in den Aufbruch eines geschichtlichen und hermeneutischen Denkens hinein wohl ohne ebenbürtige Parallele geblieben; mehr noch als der Denker der Schule ist er der Denker des Dialogs.
Diese Art von Integrationskraft sucht man bei Bonaventura vergebens. Er ist weit exklusiver, weit strenger geprägt von der durchgängigen Präsenz seines eigenen Ansatzes. Doch während Thomas verschiedene Sichten auf dieselbe Sache miteinander vermittelt, gelingt Bonaventura das gewiß nicht weniger Erstaunliche, verschiedene Sachbereiche durchgreifende polare Spannungen aufzudecken und zu vermitteln, die bei Thomas kaum ausdrücklich werden. An dieser Stelle mögen knappe Hinweise genügen: Das Werk des Bonaventura im ganzen darf gelten als Vermittlung zwischen Rationalität und Mystik, zwischen Ansatz bei Gott allein und Ansatz bei der existentiellen Situation, zwischen schlichter Nachfolge und ins Äußerste vorgetriebener Reflexion, zwischen getreu übernommener Tradition und der Kühnheit eigenen Entwurfs, zwischen „objektiv“ expliziertem Glaubensinhalt und „subjektivem“ Glaubensvollzug, zwischen Metaphysik und Heilsgeschichte. Solche Vermittlung ist es vielleicht vor allem, was ein Gespräch mit Bonaventura zum Gespräch über die heutige Problematik christlichen Glaubens und christlicher Theologie werden läßt.
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Man denke an seine Auseinandersetzung mit den Aristotelikern der Pariser Artistenfakultät (opusculum de unitate intellectus contra Averroistas). ↩︎
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Vgl. bes. die Pseudodionysiuskommentare und den Kommentar zum Liber de causis; ferner die Übernahme und Weiterbildung der platonischen Lehre von der participatio. ↩︎